América
Babysitten, Geschirrspülen, Wäschewaschen und Bügeln brauchten?
Wie sich zeigte, war das ganz egal. Sie saß vom frühen Morgen bis zum Mittag herum, ohne Arbeit zu finden. So etwa gegen elf - wie spät es genau war, wußte sie nicht - kam eine große gringa mit einer wilden Mähne wie stumpfes Metall und Augen von der Farbe einer Coca-Flasche in seltsam torkelndem Gang die Straße herauf, durchquerte den seitlich offenen Unterstand wie ein Zombie und ließ sich direkt neben América auf die Erde fallen. Es war schon ziemlich heiß - mindestens zweiunddreißig Grad -, dennoch trug die Frau ein Kleid aus schwerem Brokat, wie man ihn auf dem Sofa eines Freudenhauses erwarten würde, und um ihre Schultern lag eine Stola aus demselben Stoff. Als sie näher kam, sah América den schmalen Drahtring, der ihren rechten Nasenflügel durchbohrte.
»Hallo, wie geht's?« sagte die Frau. »Ich bin Mary. Llama Mary.«
»Me llamo América«, gab América zurück. »¿Habla Usted español?«
Mary grinste. Sie hatte riesengroße Kuhzähne, die eher gelb als weiß waren. »Poco«, sagte sie. Wenig. »Keine Arbeit heute, was? Weißt schon, Arbeit - trabaja.«
Arbeit. Bot ihr diese Frau etwa Arbeit an? Américas Herz schlug schneller, aber dann dämmerte es ihr. Diese Frau sah nicht gerade wie eine Hausfrau aus, nicht so, wie América es in den Filmen und Fernsehserien aus dem Norden gesehen hatte. Nein, sie wirkte schmutzig und war vom traurigen Geruch der Armut umgeben.
»Ich suche auch«, sagte die Frau und stieß sich dabei zur Betonung den Daumen in die Brust. »Ich. Ich arbeiten - trabaja. Putzen, Anstreichen, alles mögliche - comprendo? Mal find ich was, dann wieder nicht. Du sabe?«
América wußte nicht. Und sie verstand auch nicht. Wollte ihr diese Frau etwa erzählen, daß sie, eine Gringa in ihrem eigenen Land, sich um die gleiche Arbeit wie América bemühte? Es konnte nicht sein. Es war unfaßbar. Wahnsinn.
Doch Mary blieb dabei. Mit der Hand vollführte sie Wischbewegungen, putzte ein unsichtbares Fenster, machte dabei sogar leise Quietschgeräusche, um das Reiben des Lederlappens und das Spritzen des Salmiaks zu imitieren, dann tauchte sie ihren imaginären Lappen in einen imaginären Eimer, bis América endlich begriff: sie war eine criada, eine Putzfrau, hier in ihrem eigenen Land, und so verrückt es auch schien, sie suchte dieselbe nicht existierende Arbeit wie América.
Nun, das war ein Schock - so wie damals, als sie in Venice den langhaarigen gabacho gesehen hatte, der auf der Straße bettelte. América fühlte jede Hoffnung in sich schwinden. Und jetzt wühlte die Gringa - Mary - in ihrer Kleidung herum, als kratzte sie Flohstiche oder so was Ähnliches, wand sich richtiggehend auf dem Fußboden. Aber was sie dann hervorzog, war kein Floh, sondern eine Flasche. Ein Flachmann. Sie nahm einen großen Schluck und lachte, dann hielt sie América die Flasche hin. Nein, gab América kopfschüttelnd zu verstehen und dachte dabei: Bin ich so tief gesunken, eine gute Schülerin und ein braves Mädchen, die immer ihre Eltern geachtet hat und folgsam war, daß ich jetzt ohne Geld mit einer gewöhnlichen Säuferin im Dreck sitze? »Entschuldigung bih-te«, sagte sie und stand auf, um Candelario Pérez nochmals zu fragen, ob es nicht doch etwas für sie gab.
Aber sie fand ihn nicht. Es war zu spät. Gemäß einer Abmachung mit den Bewohnern der Gegend mußte die Arbeitsvermittlung am Mittag schließen - sie mochten einerseits liberal und vom Geist der Nächstenliebe und Menschlichkeit durchdrungen sein, aber andererseits wollten sie auch kein dauerhaftes Lager von arbeitslosen Pechvögeln und Ausländern in ihrer Mitte. Wenn es zwölf Uhr wurde, hatten alle heimzugehen, bis auf die Glücklichen, die einen Job gefunden hatten - die gingen nach Hause, wenn der Boss sie ließ. Es war streng verboten, in der Schlucht oder im Gebüsch an der Straße zu kampieren - das sagten nicht nur die Gringos, sondern auch Männer wie Candelario Pérez, der genau wußte, daß ein einziger Camper es allen vermasseln konnte. Niemand hinderte die Gringos daran, den Unterstand niederzureißen oder die Polizei und die grimmigen Männer der Einwanderungsbehörde zu rufen. Von alledem wußte América nichts, und das war ein kleiner Segen. Aber sie wußte, daß es Mittag war und daß die Versammlung sich nun auflöste.
Ziellos wanderte sie auf dem Platz herum. Auf der Cañyonstraße fuhren Autos vorbei, aber es waren weniger geworden.
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