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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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versprochenen Dollar - oder hatte er Mary etwa mehr versprochen? Der Gedanke durchzuckte América, während sie im Auto saß und einen etwa zwölfjährigen Jungen auf einer Geländemaschine heranbrausen sah, der in einer Wolke aus Auspuffqualm hinter dem Bungalow verschwand. Candelario Pérez hatte fünfundzwanzig Dollar gesagt, aber vielleicht bekam Mary dreißig oder fünfunddreißig und die zusätzlichen zwei Stunden extra, nur weil sie weiß war, weil sie englisch sprach und einen Nasenring trug. América war sich ganz sicher. Sie beobachtete die beiden komplizenhaften großen Köpfe auf dem Vordersitz, wie sich die Schultern vorneigten, als das Geld den Besitzer wechselte, und dann stieg Mary aus, und der patrón lehnte sich über den Sitz zurück, um in seinem hektischen, abgehackten, unverständlichen Kauderwelsch etwas zu América zu sagen.
    Er wollte anscheinend, daß sie sich nach vorn setzte, das war es. Das schloß sie aus seinen Grimassen, den Gesten seiner aufgedunsenen Hände. Na gut. América stieg aus und nahm in dem Schalensitz neben ihm Platz. Der Dicke stieß mit dem Wagen zurück und raste in einer Staubwolke davon.
    Er schaltete das Radio an. Keine Geigen, keine Celli: Gitarren. Sie kannte den Schlager entfernt - Hotel California oder so ähnlich. Welcome, welcome -, und sie überlegte, wie merkwürdig das alles war, daß sie hier bei diesem reichen Kerl im Auto saß, Geld verdiente, im Norden lebte. Nie hätte sie sich träumen lassen, daß es wirklich so kommen würde. Wenn ihr das früher jemand erzählt hätte, als sie noch zur Schule ging, sie hätte es nicht geglaubt - es wäre ihr wie ein Märchen erschienen, so wie das von dem armen Mädchen mit den engen Schuhen. Aber nicht genug damit, daß der Dicke sie am Ende um die zusätzlichen zwei Stunden betrog und rüde aus dem Auto warf - während der Fahrt legte er ihr wie zufällig die Hand auf den Oberschenkel. Sie wollte diese Hand am liebsten von sich stoßen, mit einer Machete abhacken und im Hinterhof einer bruja, einer Hexe, vergraben, aber sie tat es nicht.
    Sie ließ die Hand einfach dort liegen wie ein totes Ding, obwohl sie sich bewegte und herumtastete, und sie wollte schreien, daß der Wagen anhalten, die Tür aufgehen und die dornigen Sträucher der Schlucht sie beschützen sollten.

7
    Delaney war in Eile. Die Marinarasoße köchelte seit zwei Uhr, und die Muscheln dünsteten im Topf, als er feststellte, daß keine Pasta im Haus war. Kyra würde gleich kommen, der Tisch war gedeckt, der Salat angemacht, Jordan in sein Videospiel versunken, das Wasser für die Pasta am Brodeln. Aber keine Pasta im Haus. Er beschloß, es zu riskieren: zehn Minuten zum Hinfahren, zehn Minuten zurück, und Jordan war beschäftigt. »Jordan«, rief er und steckte den Kopf zur Tür des Kinderzimmers hinein, »ich fahre schnell zu Gitello runter und kaufe Spaghetti. Deine Mutter wird jeden Augenblick da sein, aber falls irgendwas Wichtiges ist, kannst du nach nebenan zu den Cherrystones gehen. Selda ist zu Hause, ich hab gerade mit ihr geredet. Okay?«
    Der Hinterkopf des Jungen war ein helles Gewuschel, die Samenkapsel einer von Videostürmen hin und her geworfenen exotischen Wildblume, nickend und schulterzuckend, vornübergebeugt in ungebrochener, unauflöslicher Konzentration.
    »Okay?« wiederholte Delaney. »Oder willst du mitkommen? Du kannst mit mir fahren, wenn du möchtest.«
    »Okay.«
    »Was ist okay? Mitkommen oder hierbleiben?«
    Es gab eine Pause, in der sich Delaney an das schummrige Kunstlicht im Zimmer gewöhnte, das Licht einer Kerkerzelle, und er spürte den starken, packenden Sog des kleinen grauen Bildschirms. Die Jalousien waren heruntergelassen, und die einzigen Geräusche waren die Schnellfeuersalven und Detonationen des Videospiels, dann und wann unterbrochen von einem blechernen Tusch. Ihm fuhr der Gedanke durch den Kopf, daß das Haus abbrennen könnte, mit Jordan darin, er sah Jordan lichterloh lodern, ohne daß er es richtig merkte - zehn Minuten hin, zehn Minuten zurück -, und es wurde ihm klar, daß er ihn keine Sekunde lang allein lassen durfte, auch wenn Selda gleich nebenan wohnte und die Muscheln langsam hart wurden, das Wasser kochte und Kyra jeden Moment kommen konnte. Der Junge war erst sechs und die Welt voller böser Überraschungen - man denke nur daran, was dem Hund in ihrem eigenen Garten zugestoßen war. Was hatte er sich bloß dabei gedacht?
    Jordan drehte nicht einmal den Kopf. »Hierbleiben«, murmelte

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