Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
durchstöberte er halbherzig seine Sammlung von Naturkundebüchern und stieß darin auf die Information, daß die Stare, die er ständig auf dem Parkplatz von McDonald's sah, zu den Nachkommen eines Schwarms gehörten, der vor hundert Jahren im Central Park ausgesetzt worden war, und zwar von einem Amateurornithologen und Shakespeare-Fan, der dafür hatte sorgen wollen, daß sämtliche im Werk des großen Dramatikers erwähnten Vögel auch auf den Bäumen Nordamerikas nisteten. In ähnlicher Weise waren die Schnecken, die draußen im Garten die Beete verwüsteten, von einem französischen Koch importiert worden, der sie sich sautiert und mit Knoblauch-Butter-Soße übergossen vorgestellt hatte. Es war reichhaltiges Material, ziemlich faszinierend - wie konnten die Menschen nur so blind sein? -, und er spürte bereits den Kern der Geschichte in sich keimen, doch letztendlich war er zu unruhig zum Arbeiten. Obwohl es gerade erst halb elf war, schaltete er den Computer ab und brach früher als sonst zu seiner Nachmittagswanderung auf. Es gab einen Bach oberhalb des Hauptcanons - die jähe gestrüppüberwachsene Steigung führte direkt durch die Felswand nach oben -, der ganzjährig Wasser führte und den er schon seit längerem erforschen wollte, und die gewonnenen zweieinhalb Stunden gaben ihm Gelegenheit dazu. Er mußte allerdings auf der Cañonstraße parken, an einer Stelle, wo die Bankette sehr schmal war und morgens und nachmittags starker Verkehr herrschte. Von dort konnte er in den großen Cañyon hinuntersteigen und dem Bachbett folgen, bis er auf den kleineren, namenlosen Cañyon traf, in den er hineinklettern wollte. Die Aussicht beflügelte ihn. Er zog Shorts, T-Shirt und Wanderstiefel an, packte zwei Sandwiches mit Frischkäse und Sojasprossen zu der Lederflasche mit Wasser, dem Notfallpaket gegen Schlangenbisse, Sonnenschutzcreme, Landkarte, Kompaß, Anorak und Feldstecher, Dinge, die immer in seinem blauen Nylonrucksack bereitlagen und die er auf jeden noch so kurzen Ausflug mitnahm. Er war sicher, daß er rechtzeitig zurück sein würde, um Jordan von seinem Sommerferienprogramm aus der Grundschule abzuholen und ihm etwas zu essen zu machen, und wenn Kyra nach Hause käme, würden sie zu Emilio gehen. Zum Kochen hatte er jedenfalls keine Lust. Nicht nach dem gestrigen Abend.
    Es war ein klarer, trockener Tag, der letzte im Juni, und der Küstennebel, der sich den ganzen Frühling hindurch hartnäckig gehalten hatte, machte endlich den weiten Horizonten des Sommers Platz. Delaney genoß die Fahrt. Der Verkehr war zu dieser Stunde minimal, und der Acura hielt sich mühelos auf der Straße, während er durch den Cañyon fuhr, zügig die Kurven nahm, um gleich dahinter wieder zu beschleunigen. Delaney passierte Gitellos Laden, die Holzhandlung, die Stelle, wo er den Mexikaner angefahren hatte, aber daran dachte er nicht mehr - er war jetzt vom Schreibtisch befreit, auf dem Weg in die Wildnis, und er fühlte sich glücklich und unbesiegbar. Er kurbelte das Fenster herunter, um sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen zu lassen.
    Von hier aus konnte er gut erkennen, wie das Feuer des Vorjahres den Cañyon zweigeteilt hatte, er sah die nackten Knochen der Bäume und Büsche, die sich schwarz vor der Felswand abzeichneten, aber selbst diesen Anblick genoß er. Der Cañon hatte sich bereits wieder erholt, und Delaney vermerkte befriedigt, daß jener Pyromane, der damals das Feuer gelegt hatte, sich wohl kaum hatte vorstellen können, was für eine üppige Vegetation auf den Brand folgen würde. Von der Asche frisch gedüngt, hatten die Gräser und Wildblumen eine wahre Spitzenleistung vollbracht, und in den Hügeln stand das goldene Gras hüfthoch, alles war Teil des Zyklus, so unleugbar wie sich die Erde um ihre eigene Achse drehte.
    Nach einer Weile verlangsamte er und hielt nach einem günstigen Platz zum Parken Ausschau, aber hinter ihm waren mehrere Wagen, darunter auch einer dieser frisierten Pick-ups mit circa zwei Meter Bodenhöhe. Solche Geländevehikel wurden unweigerlich von Primitivlingen gelenkt, die einem praktisch direkt an der Stoßstange klebten - wie auch sein Hintermann jetzt -, so daß er bis zur Sohle des Cañons weiterfahren mußte, ehe er bei einer Tankstelle auf der Küstenschnellstraße umdrehen und sich an den Rückweg bergauf machen konnte. Das Meer war kurz zu sehen, füllte den ganzen Horizont aus, dann war es nur noch in seinem Rückspiegel, auf einen zwanzig mal acht Zentimeter großen

Weitere Kostenlose Bücher