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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Und sie hatte Hunger, immer dieser Hunger. Wäre sie in Tepoztlán geblieben, all die grauen Tage ihres Lebens, so hätte sie zwar genug zu essen gehabt - solange ihr Vater lebte und sie auf jedes Fingerschnippen von ihm wie eine Sklavin sprang -, aber mehr hätte sie nie bekommen, nicht einmal einen Mann, denn alle Männer im Dorf, alle anständigen jedenfalls, fuhren jedes Jahr für neun Monate in den Norden. Oder für zehn Monate. Oder gleich für immer. Um Erfolg zu haben, um den Sprung zu schaffen, mußte man leiden. Und ihr Leiden war nichts gegen die Qualen der Märtyrer - oder die der Menschen auf den Straßen von Mexico City und Tijuana, die verkrüppelt und von Gott ebenso wie von den Menschen verlassen waren. Was tat es da schon, daß sie in einem Verschlag im Freien lebte? Es würde ja nicht für lang sein. Sie hatte Cándido, und sie verdiente zum erstenmal in ihrem Leben Geld, außerdem konnte jetzt auch Cándido wieder arbeiten, und der Alptraum der letzten Wochen war vorbei. Bevor es im Herbst zu regnen anfing, würden sie eine Wohnung haben, das hatte er ihr versprochen, und sie könnten dann auf all das wie auf ein Abenteuer zurückblicken, es wäre nur eine lustige Geschichte, die sie ihren Enkeln erzählen würden. Cándido, würde sie dann sagen, erinnerst du dich noch, wie dich damals das Auto angefahren hat, als wir draußen kampiert und am offenen Feuer gekocht haben, weißt du noch? Vielleicht würden sie sogar eines Tages an dieser Stelle ein Picknick machen, mit ihrem Sohn, vielleicht auch mit einer Tochter.
    Sie hielt das Bild in ihrem Kopf fest - der Picknickkorb, ein Kofferradio, aus dem Musik ertönte, ein kleiner Junge in kurzen Hosen und ein Mädchen mit Schleifen im Haar -, während sie sich mit der braunen Plastiktüte den Pfad hinunterarbeitete. Steinchen sprangen unter ihren Füßen weg und stürzten vor ihr den Berg hinunter, wie Wasser in einem Flußbett. Ein klarer, scharfer Geruch nach Salbei und Mesquite lag in der Luft, und noch ein schwaches, undefinierbares Aroma, das eine Agave sein konnte. Es wuchsen genug Agaven auf den Hängen, mit ihren riesigen Blütenstengeln, wie vom Himmel geworfene Speere. Dufteten die überhaupt? fragte sie sich. Mußten sie eigentlich, oder, um die Bienen und die Kolibris anzulocken? Sie sollte einmal nahe herangehen und an einer riechen.
    Sie war kurz vor der Stelle, wo der große runde Felsen aus der Erde ragte, als ein plötzliches Geräusch im Unterholz sie erschreckte. Ihr Blick suchte den Pfad vor sich ab, und sie hielt den Atem an. Sie hatte Angst vor Schlangen, vor allem wenn das Licht langsam schwand und sie herauskrochen, wenn ihre schuppigen, dicken Körper mit den bösen Augen entlang des Pfades lauerten wie Holzstöcke, wie Schatten. Aber es war keine Schlange, und sie mußte über sich lachen, als die erste von ein paar Wachteln mit wackelndem schieferfarbenem Kopf durch das tote Laub über den Pfad raschelte. Cándido hatte schon oft versucht, diese kleinen Vögel zu fangen, aber sie waren zu schnell, huschten sofort ins Gebüsch davon oder sie schrien auf wie verängstigte Kinder, spreizten die Flügel und flatterten über die Sträucher in die Sicherheit des Cañons. Sie blieb kurz stehen, um sie vorbeizulassen, die Küken im Schlepptau der Mütter, dann trat sie in den tiefen, violetten Schatten des Felsens.
    Er wartete dort auf sie, der mit der heiseren, hohen Stimme und dieser Haut, die aussah wie zuviel Milch in einem Topf mit Kaffee, mit der umgedreht auf dem Kopf sitzenden Mütze, wie sie die Gringos oft trugen, und diesen Augen von der Farbe rohen Fleisches. Bei ihm war ein zweiter Mann, ein Indio, dunkelbraun wie verbrannter Toast. Sie saßen dort, warteten auf abgerundeten Sandsteinbrocken, lange silbrige Bierdosen in den Händen. »Hallo, hallo«, sagte er, und sein Gesicht war ausdruckslos im gedämpften Licht, » buenas noches, señorita - oder sollte ich besser señora sagen? Ja? Stimmt doch?« Und dann warf er ihr ihre eigenen Worte an den Kopf: »Verheiratete Frau.«
    Es blieb keine Zeit zum Überlegen, keine Zeit für Proteste oder Einsprüche. Sie drehte sich um und rannte bergauf, zurück zur Straße, der sie eben entronnen war - dort würden sie ihr nichts anhaben können, bestimmt nicht. Sie war jung und gut in Form, weil sie in den letzten sechs Wochen zweimal täglich den Cañon hinauf- und hinuntergeklettert war, und sie war schnell, das Blut rauschte ihr in den Ohren, aber die beiden waren ebenfalls

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