América
fuhr, blieb ihr das Herz stehen. Immer wieder mußte sie an La Migra denken, an die strengen, schweigsamen Männer in den hellbraunen Uniformen, die in der schlimmsten Nacht ihres Lebens dabeigewesen waren - als sie splitternackt vor so vielen fremden Menschen hatte stehen müssen -, auch wenn Cándido überzeugt war, daß sie sie hier nicht finden würden. Das Risiko war gering. Winzig. Aber sie mochte keine Risiken, überhaupt keine, deshalb wich sie in die Sträucher zurück und wartete.
Eine Stunde verrann. Ihr war langweilig und auch bang, weil sie sich alle möglichen Katastrophen vorstellte: vielleicht hatte die Polizei Cándido geschnappt, oder er war zum Cañon zurückgegangen und dort in ein Klapperschlangennest getreten, oder es hatte ihn wieder ein Auto angefahren und er verblutete in den Büschen. Von dort wanderten ihre Gedanken zum Lager am Bach - vielleicht war er dort unten, fachte das Feuer an, wärmte das Essen - und dann zu dem Essen selbst, und ihr Magen knurrte. Sie hatte Hunger. Heißhunger. Und obwohl der Supermarkt sie einschüchterte, trieb sie der Hunger hinein, und sie kaufte wieder eine Dose Sardinen und eine Packung von diesem süßen Weißbrot, das ganz flauschig war, wie eine eßbare Wolke, dazu einen Schokoriegel für Cándido. Sie befürchtete, jemand könnte sie ansprechen, ausfragen, zur Rede stellen, aber das Mädchen an der Kasse starrte durch sie hindurch, und der Preis - $ 2,73 - wurde in roten Ziffern angezeigt, was ihr das Problem ersparte, die unergründlichen Zahlen entschlüsseln zu müssen, die aus dem Mund des Mädchens erklangen. Draußen, zurück auf ihrem Baumstumpf, legte sie die Sardinen auf die Brotscheiben, und ehe sie sich's versah, hatte sie die ganze Dose leer gegessen. Ihre armen geschundenen Finger waren gelb von Öl.
Und dann verschwand die Sonne hinter den Bergen, und die Schatten wurden dunkler. Wo war Cándido? Sie wußte es nicht. Aber sie konnte nicht die ganze Nacht lang hierbleiben. Wieder dachte sie an das Lager, den Unterstand, den Fleischtopf, die im Sand ausgebreitete Decke, und wie dort die Nacht in feinsten Abstufungen hereinbrach, sich langsam um sie schmiegte, bis sie sich sicher und geborgen fühlte, beschützt vor den neugierigen Blicken und den scharfen Kanten der Welt. Dort wollte sie gerne sein. Sie war müde, genervt und leicht benommen vom stundenlangen Einatmen der Dämpfe. Sie stand auf, sah sich noch einmal um und ging dann die Straße hinunter, in der Hand die braune Plastiktüte mit dem Brot, dem Schokoriegel und ihren zweiundzwanzig Dollar und siebenundzwanzig Cent.
Um diese Zeit war weitaus weniger Verkehr. Die rasenden Autoschlangen hatten sich auf einzelne Wagen hie und da reduziert, ein Luftstoß, das Sirren der Reifen, und dann erfüllte wieder die Stille des Cañons und das Zwitschern der Vögel den Abend, die Sichel des Mondes schimmerte weiß am kobaltblauen Himmel. In Gedenken an Cándido sah sie sich gewissenhaft um, bevor sie die Straße überquerte, und hielt sich am Rand der Bankette, ging mit gesenktem Kopf und so schnell sie konnte, ohne aufzufallen. Als sie schweratmend den Anfang des Pfades erreichte, wollte sie am liebsten sofort von der Straße herunter und in der Deckung verschwinden, aber sie schlenderte nonchalant daran vorbei: ein Auto kam ihr entgegen. Sie hielt den Kopf weiterhin gesenkt, ging langsam, bis es vorbei war. Sobald es um die Kurve der Holzhandlung gebogen war, drehte sie um, doch da kam wieder ein Wagen in Sicht, und sie ging zum zweitenmal an der Abzweigung nach unten vorbei. Endlich gab es eine Atempause - auf beiden Seiten niemand in Sicht -, und sie huschte ins Gebüsch.
Als allererstes hockte sie sich zum Pinkeln hin, genau wie am Abend zuvor. Sie hob ihr Kleid, kauerte sich nieder und horchte auf das heftige, ungeduldige Zischen ihres Urins, während das Tageslicht allmählich in Dämmerung überging, und der Duft der Erde ihr in die Nase stieg. Eben noch war sie dort draußen auf der Straße gewesen, ausgeliefert und verletzlich, hatte Angst, immer nur Angst gehabt, und jetzt war sie in Sicherheit. Aber auch dieser Gedanke machte ihr angst: Was für ein Leben war das, wenn man sich nur in den Büschen sicher fühlte und zum Pissen auf der Erde hocken mußte wie ein Hund? Hatte sie dafür Tepoztlán verlassen?
Aber so etwas durfte sie gar nicht denken. Sie war müde, das war alles. Ihre Schultern schmerzten, und ihre Finger brannten, weil sich die Haut an den Nagelbetten abschälte.
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