Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
andauernd passieren, aber wieso gerade ihm? »Ich begreife es immer noch nicht«, murmelte er und unterzeichnete die Papiere, die ihm Kenny Grissom über den Tisch hinschob. »Es war hellichter Tag, Hunderte von Menschen sind daran vorbeigefahren - und warum ist der Alarm nicht losgegangen?«
    Der Verkäufer stieß heftig die Luft durch die Zähne aus. »Der ist was für Amateure, Gelegenheitsdiebe und Halbstarke. Wer Ihr Auto geklaut hat, das war ein Profi. Sie kennen doch das Werkzeug, mit dem die Polizei anrückt, wenn man sich aus dem eigenen Wagen ausgesperrt hat - ein Flacheisen, etwa so lang?« Er deutete das Maß mit den Zeigefingern beider Hände an. »Sie nennen es den Zauberstab. Den schieben sie durch den Gummi an der Seitenscheibe und entriegeln das Schloß, dann wird die Tür aufgezogen, ganz behutsam, damit der Alarm nicht losgeht, schon springt die Motorhaube auf, das Kabel wird von der Batterie abgezogen, so daß die Anlage nicht mehr scharf ist, dann noch die Zündung kurzschließen, und ab geht die Post. Ein Profi schafft das in sechzig Sekunden.«
    Delaney umklammerte den Stift wie eine Waffe. Er fühlte sich mißbraucht, geprellt, hereingelegt - und niemand zuckte auch nur mit der Wimper: passiert ja andauernd. Sein leerer Magen zog sich zusammen, und das Gefühl von Sinnlosigkeit und Ohnmacht, das ihn übermannt hatte, als er auf der Straße den leeren Fleck auf dem Seitenstreifen gesehen hatte, durchflutete ihn von neuem. Es würde ihn viereinhalbtausend Dollar Aufzahlung auf die Versicherungssumme kosten, seinen Wagen durch das diesjährige Modell zu ersetzen, und das war schon schlimm genug, ganz zu schweigen davon, daß seine Prämie todsicher steigen würde, aber am meisten ärgerte ihn, daß die Leute das Ganze einfach so hinnahmen, als würden sie übers Wetter reden. Hast du ein Auto, wird es geklaut. Schlicht und einfach. Es war wie die Steuer, wie Regengüsse und Schlammlawinen.
    Bei der Polizei hatten sie seine Anzeige mit dem Enthusiasmus von lebenden Leichnamen aufgenommen - ebensogut hätte er eine verlorene Büroklammer melden können, soviel Interesse brachte man für ihn auf -, und Jack hatte die Gelegenheit genutzt und ihm eine Moralpredigt gehalten. »Was erwartest du auch anderes«, hatte er gesagt, »wenn ihr herzensguten Menschen die ganze Welt an unsere Futternäpfe einladen wollt, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, wer dafür bezahlen soll, als wäre der amerikanische Steuerzahler so was wie Jesus Christus, der Brot und Fische vermehren kann. Du siehst sie doch auch an den Straßenecken stehen, wo sie sich gegenseitig umrennen, wenn ein Auto langsamer wird, weil sie für die Chance, drei Scheine in der Stunde zu verdienen, einander glatt umbringen. Hast du mal darüber nachgedacht, was passiert, wenn sie den Halbtagsjob zum Düngerausbringen oder Dachziegelabräumen einmal nicht bekommen? Was glaubst du, wo die schlafen? Und wovon sie ihr Essen bezahlen? Was würdest du an ihrer Stelle tun?« Wie immer ruhig und gefaßt, wie immer zynisch, richtete sich Jack auf und hob warnend den Zeigefinger. »Tu nicht so überrascht, denn das ist erst der Anfang. Wir werden hier belagert - und das wird eine Gegenreaktion auslösen. Den Leuten reicht es. Sogar dir. Dir reicht es doch auch, gib's zu.«
    Und jetzt Kenny Grissom. Alles ganz normal. Ein Achselzucken, ein mitfühlender Blick und die nackte Freude über das gute Geschäft. Seit dem Moment, an dem Kyra Delaney vor der Autohandlung abgesetzt hatte - er war fest entschlossen, wieder dasselbe Auto zu nehmen, gleiches Modell, gleiche Farbe, alles gleich -, unterhielt ihn Kenny Grissom mit Geschichten über gestohlene Autos und ihre organisierte Zerlegung in Einzelteile, über das Verbrechen, das so allgegenwärtig war wie der Tod. »Verstehen Sie mich nicht falsch - ich schiebe nicht alles den Mexikanern in die Schuhe«, sagte Kenny und reichte ihm eine weitere Seite des Kaufvertrags, »es sind alle dabei - Salvadorianer, Iraner, Russen, Vietnamesen. Neulich kam hier eine rein, aus Guatemala, glaube ich, in ein Riesentuch gewickelt, schlechte Zähne, Zöpfe, keine eins vierzig groß. Sie hatte was von Kredit gehört - ›Wir geben jedem Kredit‹ und so, Sie wissen ja -, und obwohl die gute Frau keinerlei Geld oder Sicherheiten bieten konnte, nicht mal ein Bankkonto hatte sie, wollte sie bloß mal fragen, ob sie von uns ein neues Auto bekommen und vielleicht damit nach Guatemala fahren könnte ...«
    Das breite Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher