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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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auf dem Seitenstreifen der Schnellstraße.
    Die Autos strömten in dichten Reihen vorbei, auch um diese Zeit schon. Vier Spuren in jeder Richtung, eine Sturzflut von Scheinwerfern, sie fuhren hundert, hundertzehn Stundenkilometer: Selbstmord. Cándido warf einen kurzen Blick auf die zwei Männer neben ihm - beide jung und ängstlich -, dann begann er im Dauerlauf die Straße entlangzurennen, gegen den Verkehr, in der Hoffnung, es bis zur nächsten Ausfahrt zu schaffen und dort im Gebüsch zu verschwinden, das war sein einziger Gedanke. Die zwei anderen - eigentlich noch Kinder, Teenager - folgten seinem Beispiel, und zu dritt rannten sie gut einen Kilometer weit, auf ihren Fersen zwei dickköpfige Kerle von der Einwanderungsbehörde, der Verkehr donnerte vorbei, toste in ihren Ohren, und als sie in Sichtweite der nächsten Ausfahrt kamen, sahen sie, daß La Migra ihnen zuvorgekommen war und einen grünen Mannschaftswagen am Straßenrand postiert hatte. Die zwei Jungen waren in Panik, ihr Atem ging ebenso laut wie das zerfetzte, schrille Heulen der Motoren, und dann erfaßten sie die Suchscheinwerfer, und die erste Polizeisirene zerriß die Luft. War es wert, dafür zu sterben? Die Hälfte der Menschen in den Bussen würde bereits am nächsten Tag wieder hier sein, oder in achtundvierzig Stunden oder in einer Woche. Das war es nicht wert. Wirklich nicht.
    Was dann geschah, würde sich Cándido nie verzeihen. Er hätte es besser wissen sollen, die anderen beiden waren noch Kinder, verängstigt und orientierungslos. Das war es nicht wert, doch als die Beamten keuchend auf sie zurannten, ihre Gesichter verzerrt und häßlich von den Rufen und den Drohungen, da zersprang etwas in ihm, und er hechtete in den Verkehr hinein wie ein von Hunden in die Enge getriebener Hase, der den Sprung in den Tod wählt. Die Jungen folgten ihm, alle beide, und das kostete sie das Leben. Er hörte nur die kreischenden Bremsen, das durchdringende Hupen und das Geräusch, als würden alle Glasscheiben der Welt zersplittern. Die beiden Jungen wurden zu Brei gefahren - zu nichts zermalmt -, dabei hätten sie nach zwei Tagen wieder zurück sein können. Der erste wurde schlichtweg umgemäht, seine Beine an der Hüfte abgetrennt, weg war er, und der zweite hatte es fast bis zu Cándido in die dritte Spur geschafft, als ihn ein Wagen zerquetschte und als Ganzes in die Luft schleuderte. Die vierte Spur war frei, und Cándido überquerte sie, während die Apokalypse aus ineinander verkeiltem Metall und schleudernden Autos die Welt hinter ihm sprengte, bis sogar der Gegenverkehr vor Grausen anhielt. Cándido überwand den Mittelstreifen und stakte auf schwachen Beinen zur anderen Straßenseite hinüber, kletterte über den Zaun und wurde dann eins mit den Schatten.
    Und danach? Danach trieb ihn das Trauma von einem Garten zum anderen, von einem Grünstreifen zum nächsten, dann die ausgetrocknete Anhöhe des Topanga Canyon hinauf und schließlich in die Kluft des Bachbetts hinein. Mit dem Geld in seiner Tasche kaufte er sich Essen und zwei Flaschen Brandy, und dann lag er sieben Tage lang am plätschernden Bach und erlebte das Grauen immer wieder von neuem. Er betrachtete die Bäume, die sich im Wind wiegten. Er beobachtete die Erdhörnchen und die Vögel, sah das Licht durch die feinen, durchscheinenden Flügel der Schmetterlinge schimmern, und er dachte: Warum kann nicht die ganze Welt so sein? Irgendwann raffte er sich auf und fuhr nach Hause zu Resurrección.
    Damals hatte er den Cañon zum erstenmal gesehen, und jetzt war er zurück. Er fühlte sich gut hier, er hatte Arbeit und beschützte América vor der schlechten Welt da draußen. Sein Unfall war schlimm gewesen, fast tödlich, aber si Dios quiere würde er wieder gesund werden, oder fast gesund, und ihm wurde klar, daß ein Mann, der acht Fahrspuren einer Schnellstraße überquert hatte, dem Herrn Jesus glich, der übers Wasser gewandelt war, und niemand konnte erwarten, daß ihm eine solche Gnade mehr als einmal im Leben zuteil wurde. Deshalb arbeitete er für Al Lopez, strich bis fast zehn Uhr abends Wände an, und am Ende setzte ihn Al Lopez im Dunkeln bei der Arbeitsvermittlung ab, um fünfzig Dollar reicher.
    América hatte ihn bestimmt vermißt, er wußte es, und jetzt waren die Geschäfte geschlossen, alles hatte zu. Um sieben hatte Al Lopez ihm und dem Indio ein paar Pepsis und burritos in Alufolie gebracht, trotzdem hatte er noch Hunger nach all den Tagen des erzwungenen Fastens.

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