América
der Mütze und den Indio zu denken, an ihre dreckigen, zuckenden Körper und ihren widerlichen Mundgeruch, versuchte ihre Übelkeit und das Schwindelgefühl, ihre Mutter und die Zukunft zu vergessen, versuchte an gar nichts zu denken. Aus Langeweile erforschte sie das Bachbett. Badete im Tümpel. Sammelte Feuerholz. Flickte ihr altes Kleid und hob sich das neue, das ihr Cándido eines Nachmittags mitgebracht hatte, für später auf, für die Zeit, wenn sie eine Wohnung hätten und sie etwas Hübsches brauchte, um Arbeit zu finden. Eine Woche verging. Dann noch eine. Es wurde heiß. Ihre Pisse brannte. Und dann, ganz langsam, ließen die Schmerzen nach, und sie begann es zu vergessen, was ihr hier im paradiesischen Norden geschehen war, vergaß es manchmal für ein paar Minuten am Stück.
Während einer dieser Momente des Vergessens, als sie auf dem Rücken im Sand lag und in das veränderliche Gewirr des Laubes emporstarrte, so ruhig und so reglos, als läge sie im Koma, nahm sie auf einmal hinter sich ein leises Rascheln wahr. Es war heiß, die Sonne stand hoch, die Vögel schwiegen, von fern hörte man das einschläfernde Gebrumm der Autos. Da war noch ein zweites Lebewesen mit ihr an diesem geschützten Platz am Fuß des tröpfelnden Wasserfalls, ein Wesen, das atmen, sehen und fühlen konnte. Sie hatte keine Angst. Obwohl sie es nicht sehen konnte, hörte und spürte sie es, und es war kein Mensch, keine Schlange, kein Tier, das ihr weh tun würde. Ganz langsam, Millimeter für Millimeter, wie eine Pflanze, die sich der Sonne zuwendet, drehte sie den Kopf auf dem Sand, bis sie hinter sich sehen konnte.
Anfangs sah sie gar nichts und war enttäuscht, aber sie hatte Geduld, unendlich viel Geduld, die Langeweile der Tage hatte sie mit dem Boden verwurzelt, und dann sah sie eine Bewegung, und auf einmal nahm das Wesen Gestalt an, es war wie bei einem dieser Vexierbilder, auf die man ewig lange schauen konnte und doch nichts erkannte, bis man den Kopf irgendwann auf magische Weise drehte. Es war ein Coyote. Struppiges Fell, in exakt demselben Hellbraun wie das vertrocknete Gras, eine Pfote leicht angehoben, die Ohren gespitzt. Er stand da wie erstarrt, spürte wohl, daß etwas nicht stimmte, blickte aber aus seinen gläsernen gelben Augen durch sie hindurch, und sie sah die Zitzen und die Schnurrhaare des Tiers, die schwarze, eingekerbte Schnauze, sie sah, wie klein es war, so klein wie der Hund, den sie als Kind gehabt hatte, und immer noch rührte es sich nicht. Sie betrachtete den Coyoten so lange und so intensiv, daß sie zu halluzinieren begann, sich vorstellte, selbst aus diesen Augen herauszustarren und zu wissen, daß die Menschen ihre Feinde waren - Menschen in Uniform, Menschen mit verkehrt herum aufgesetzten Mützen, mit fetten, gedunsenen Fingern und fetten, gedunsenen Nacken, Menschen mit Fallen und Gewehren und vergifteten Ködern -, sie sah die Höhle mit den Welpen darin, und die Hügel schrumpften unter ihrem rasanten vierbeinigen Gang. Sie bewegte sich nicht. Blinzelte nicht. Aber dann, sosehr sie auch hinstarrte, war das Tier auf einmal nicht mehr da.
Das Feuer knackte und brauste. Funken und weiße Ascheflocken stoben senkrecht empor in den Trichter der Schlucht, flogen in die Nacht hinaus, bis die Finsternis sie verschluckte. Es war eine warme Nacht mit kalten Sternen. Und Cándido, der mit der einen Hand im Feuer stocherte, mit der anderen ein Würstchen aufspießte und zwischen den Oberschenkeln eine große Korbflasche mit Rotwein hielt, war betrunken. Nicht so betrunken, daß er alle Vorsicht außer acht ließ - er hatte sich den Cañon vorher von oben, vom Pfad aus angesehen, als das Feuer bereits lichterloh brannte, und sich vergewissert, daß nicht der geringste Lichtschein aus der Nische herausdrang, in der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Der Rauch war zu sehen, das schon, aber nur am Tage, und er paßte immer auf, daß das Feuer tagsüber aus war oder nur noch aus Glut bestand. Jetzt aber war es dunkel, und wer konnte schon ein paar Rauchschwaden vor dem dunklen Vorhang des Nachthimmels erkennen?
Jedenfalls war er betrunken. Er war betrunken und schürte das Feuer, einfach nur aus Freude, aus dem kindlichen Wohlbehagen, dabei zuzusehen, wie die Flammen die Hölzchen langsam verzehrten, und zum guten, praktischen Zweck des Würstchenbratens. Eine ganze Packung hatte er mitgebracht, acht scharfe italienische Würstchen, nicht ganz so gut wie chorizos vielleicht, aber immerhin. Eine
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