América
diese drei Wörter herum. Wenn sie sie auf der Straße, auf dem Parkplatz oder bei der Arbeitsvermittlung beraubt hätten, das wäre etwas anderes gewesen, aber auf dem Pfad ... »Was noch? Was haben sie noch getan? Los, sag's mir! Sie haben doch nicht ... haben sie versucht, dich zu ...«
»Nein«, sagte sie. »Nein.«
»Du lügst doch. Lüg mich nicht an. Wag es nicht, mich anzulügen!«
Sie riß sich los und starrte ins Feuer, wischte sich mit dem Handgelenk über die Augen. »Sie haben mir mein Geld weggenommen.«
Cándido war bereit zu töten, er hätte am liebsten jeden Busch in den Bergen durchwühlt, bis er auf ihr Lager gestoßen wäre, und dann hätte er ihnen im Schlaf die Schädel eingeschlagen. Das Bild krallte sich in seine Gedanken: hellbraune Hundeaugen, heftig um sich schlagende Arme und ein Stein, der immer wieder niedersauste. »Ist das alles?« zischte er und kämpfte gegen sein Wissen an. »Ist das alles, was sie dir genommen haben?« Er packte sie nochmals am Arm. »Bist du ganz sicher?«
»Ja«, flüsterte sie und sah ihm jetzt fest in die Augen. »Ich bin sicher.«
Es tat weh, das war jedenfalls klar. Es brannte. Brannte wie Säure in einer offenen Wunde, wie das ätzende Mittel im Haus des dicken Mannes, wenn es in die aufgerissene Nagelhaut gelangte. Jedesmal, wenn sie pinkeln mußte, meinte sie ein Feuer im Leib zu haben. Sie wußte nicht, was es war - eine Nachwirkung dessen, was sie ihr an jenem Abend angetan hatten, als ihr Innerstes verletzt und beschmutzt worden war, wundgescheuert wie ein aufgeschrammtes Knie ... oder war das einfach eine neue, unerwartete Phase ihrer Schwangerschaft? War das normal? Mußte es vielleicht so sein am Anfang des fünften Monats, daß es beim Pinkeln höllisch brannte? Ihre Mutter hätte es gewußt. Ihre Tanten, ihre älteren Schwestern, die Hebammen des Dorfes. Wäre sie zu Hause, hätte sie sogar Señora Serrano fragen können, die Nachbarin, die sechzehn Kinder zur Welt gebracht hatte, von denen die ältesten schon erwachsen und selbst Eltern waren und das jüngste noch in Windeln herumlief. Aber hier? Hier gab es niemanden, und das machte ihr Sorgen - Sorgen wegen jetzt und wegen später, wenn ihre Zeit kommen würde.
Tag für Tag wartete América, gelangweilt und unter Schmerzen, in der Hütte hinter dem Autowrack auf Cándido - zur Arbeitsvermittlung ließ er sie nicht mehr gehen, nie wieder -, und ihre Brüste spannten, ihr war übel, sie brauchte ihre Mutter, wollte Antwort auf die Fragen, die eine Tochter erst dann stellt, wenn sie verheiratet ist. Aber sie und Cándido hatten ja nie geheiratet, nicht offiziell, nicht in der Kirche. In den Augen der Kirche war Cándido bereits verheiratet, mit Resurrección, und zwar für immer. América war mit Cándido einfach nachts durchgebrannt, lautlos wie Diebe auf der Flucht, und sie hatte ihrer Mutter nur einen Zettel zurückgelassen, weil sie es ihr nicht ins Gesicht sagen konnte, und schon damals war sie schwanger gewesen, auch wenn sie es noch nicht wußte. Gern hätte sie jetzt mit ihrer Mutter gesprochen, am Telefon, in einer dieser Telefonzellen mit den kleinen Plastikdächern, von denen es vor dem Chinesenladen gleich eine ganze Reihe gab, hätte gern ihre Stimme gehört und ihr gesagt, daß es ihr gut ging, und sie gefragt, warum es beim Pinkeln so brannte. Mußte das so sein? Machten alle Frauen so etwas durch? Allerdings, selbst wenn sie das Geld gehabt hätte, die silbernen Münzen auf dem Plastikbrett ordentlich vor sich aufgereiht, hätte sie nur in der Apotheke des Dorfes anrufen können, weil ihre Eltern kein Telefon hatten, und selbst das ging nicht: Sie wußte die Nummer der Apotheke nicht, wußte nicht einmal die Vorwahl von Mexiko.
So wartete sie in ihrer kleinen Nische im Wald wie die Prinzessin im Märchen, beschützt von einem Burggraben und den scharfen spitzen Klauen eines Autowracks, nur daß die Prinzessin vergewaltigt worden war, daß es beim Pinkeln brannte und daß sie bei jedem Geräusch zusammenzuckte. Cándido hatte ihr ein paar alte Zeitschriften auf englisch mitgebracht - er hatte sie in der Mülltonne hinter dem Supermarkt gefunden -, dazu sechs schmutzige, eselsohrige novelas, Fotoromanzen mit Geschichten auf spanisch über el Norte, in denen arme Jungen und Mädchen vom Land ihr Glück machten und sich in den funkelnden Küchen ihrer funkelnden Gringo-Häuser leidenschaftlich küßten. Sie las sie wieder und wieder und versuchte dabei, nicht an den Mann mit
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