American Gods
würde forsch ausschreiten und auf diese Weise warm bleiben.
Er marschierte los und wandte sich südlich in Richtung Brücke.
Bald schon, als die bitterkalte Luft tief in der Lunge ankam, begann er zu husten, ein trockener, dünner Husten. Nicht lange, und ihm taten die Ohren, das Gesicht und die Lippen weh und schließlich auch die Füße. Er stieß die unbehandschuhten Hände tief in die Jackentaschen und ballte die Finger auf der Suche nach etwas Wärme zusammen. Unwillkürlich erinnerte er sich an Low Key Lyesmiths unglaubwürdige Erzählungen über die Winter in Minnesota – insbesondere die eine über den Jäger, der bei strengem Frostwetter auf der Flucht vor einem Bären auf einen Baum geklettert war, nach einer Weile den Schwanz herausholte und seinen Urin in hohem Bogen nach unten schickte, welcher bereits gefroren war, bevor er den Boden erreichte, sodass der Jäger auf dem steinharten Pinkelpfahl vom Baum hinunter in die Freiheit gleiten konnte. Ein säuerliches Lächeln ob der Erinnerung und nochmaliges trockenes, schmerzhaftes Husten.
Ein Schritt nach dem anderen. Er blickte zurück. Das Apartmenthaus lag noch nicht so weit weg, wie er erwartet hatte.
Die ganze Wanderung, befand er, war ein Fehler. Aber er hatte sich bereits drei, vier Minuten weit von der Wohnung entfernt, und die Brücke über den See war in Sicht. Wo er schon mal so weit war, konnte er auch weitermachen, statt wieder umzukehren (Und dann was? Ein Taxi bestellen mit dem Telefon, das nicht ging? Auf den Frühling warten? Er hatte keinerlei Nahrungsmittel in der Wohnung, gab er sich zu bedenken).
Er ging weiter und korrigierte seine Schätzung der Temperatur mit jedem Schritt nach unten. Minus zwanzig? Minus dreißig? Minus vierzig vielleicht, jener seltsame Punkt auf dem Thermometer, wo Celsius und Fahrenheit dasselbe angeben. Na, so kalt wohl doch nicht. Andererseits gab es da ja noch den so genannten Windchili, und der Wind ließ sich auch nicht lumpen. Er blies, von der Arktis über Kanada herkommend, kräftig und stetig über den See.
Mit Wehmut dachte er an die chemischen Hand- und Fußwärmer zurück. Die hätte er jetzt gut gebrauchen können.
Nach seiner Schätzung zehn Minuten später, schien die Brücke noch immer nicht näher gerückt zu sein. Ihm war so kalt, dass er nicht mal mehr zittern konnte. Die Augen taten ihm weh. Das war schon keine Kälte mehr, das war Science-Fiction. Das hier war eine Geschichte, die auf der Rückseite des Merkurs spielte, damals, als man noch dachte, dass der Merkur eine Rückseite hätte. Diese Geschichte spielte draußen auf dem felsigen Pluto, wo die Sonne nur einer unter vielen Sternen war, einer, der in der Dunkelheit nur ein bisschen heller strahlte. Das hier, dachte Shadow, könnte gut und gern einer jener Orte sein, wo die Luft in Eimern lagerte und wie Bier strömte.
Die Autos, die gelegentlich an ihm vorbeifuhren, erschienen ihm unwirklich: Raumschiffe, kleine, gefriergetrocknete Päckchen aus Metall und Glas, von Lebewesen bewohnt, die wärmer angezogen waren als er. Ein altes Lied, das seine Mutter gemocht hatte, ging ihm durch den Kopf: »Walking in a Winter Wonderland«, und er summte es mit zusammengepressten Lippen vor sich hin, während er versuchte, beim Gehen nicht langsamer zu werden.
Er hatte jegliches Gefühl in den Füßen verloren. Er blickte auf seine schwarzen Lederschuhe, die dünnen Baumwollsocken hinunter und fing an, sich jetzt ernsthaft Sorgen über Erfrierungen zu machen.
Das war kein Witz mehr. Das ging jetzt auch übers rein Närrische hinaus, das hatte die Grenze zum 24-karätigen Super-Hyper-Tiptop-Wahnsinn überschritten. Er hätte genauso gut Spitze oder Netzkleidung tragen können: Der Wind blies einfach durch ihn hindurch, ließ die Knochen und das Mark darin gefrieren, die Augenlider und die warmen Nischen unter den Eiern, welch letztere sich wohlweislich in die Beckenhöhle zurückgezogen hatten.
Immer weitergehen, sagte er sich. Immer weitergehen. Ich kann auch auf dem Rückweg noch irgendwo auf einen Eimer Luft einkehren. Ein Beatles-Song begann in seinem Kopf zu spielen, und er passte seinen Schritt dem Rhythmus an. Erst als er zum Refrain kam, wurde ihm klar, dass es »Help« war, was er da summte.
Jetzt war er fast an der Brücke. Dann musste er sie überqueren, und danach hätte er immer noch zehn Minuten bis zu den Geschäften auf der Westseite zu gehen – wenn nicht länger …
Ein dunkles Auto fuhr an ihm vorbei, hielt, setzte
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