American Gods
Eine Stimme, die er kannte.
Niemand rührte sich. Alle starrten Shadow an. Er starrte zurück.
Chad Mulligan kam durch die Menge hindurch herbei. Die kleine Frau ging vorsichtig hinter ihm her, die Augen weit aufgerissen, als wollte sie sich anschicken, gleich noch einmal loszuschreien. Shadow kannte sie. Natürlich kannte er sie.
Chad, der noch sein Bier in der Hand hielt, stellte es jetzt auf dem nächstbesten Tisch ab. »Mike«, sagte er.
»Chad«, sagte Shadow.
Audrey Burton ergriff Chads Ärmel. Ihr Gesicht war kreidebleich, und sie hatte Tränen in den Augen. »Shadow«, sagte sie. »Du Mistkerl. Du blutrünstiger, böser Mistkerl.«
»Bist du dir sicher, dass du diesen Mann kennst, Schatz?«, sagte Chad. Er schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen.
Audrey Burton sah ihn ungläubig an. »Bist du verrückt? Er hat jahrelang für Robbie gearbeitet. Seine Frau, die Schlampe, war meine beste Freundin. Er wird wegen Mordes gesucht. Ich musste wegen ihm jede Menge Fragen beantworten. Er ist ein entlaufener Sträfling .« Sie hatte völlig die Fassung verloren, die mit Mühe unterdrückte Hysterie ließ ihre Stimme zittern, und sie schluchzte ihre Worte heraus wie eine Soap-Schauspielerin, die sich für eine Emmy-Auszeichnung empfehlen will. Entfernte Mischpoke , dachte Shadow unbeeindruckt.
Niemand in der ganzen Kneipe sagte ein Wort. Chad Mulligan sah Shadow an. »Es ist sicherlich ein Irrtum. Ich bin sicher, wir können das alles klären«, sagte er und wandte sich dann an die anderen Gäste: »Es ist alles in Ordnung. Kein Grund zur Aufregung. Wir klären das. Alles in bester Ordnung.« Und zu Shadow: »Gehen wir nach draußen, Mike.« Ruhig und kompetent. Shadow war beeindruckt.
»Klar«, sagte Shadow.
Er fühlte, wie ihn jemand an der Hand berührte, und als er sich umwandte, blickte Sam ihm offen in die Augen. Er lächelte ihr zu, so beruhigend, wie es ihm möglich war.
Sam sah Shadow an, dann schaute sie in die Runde, in die zu ihnen herstarrenden Gesichter.: »Ich weiß nicht, wer Sie sind«, sagte sie zu Audrey Burton. »Aber. Sie. Sind. So eine. Blöde. Fotze.« Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, zog Shadow zu sich herunter und drückte ihm einen wilden Kuss auf die Lippen, küsste ihn mehrere Minuten lang, wie es Shadow vorkam, und auch in Echtzeit mochten es noch gut fünf Sekunden gewesen sein.
Es war ein seltsamer Kuss, dachte Shadow unterdessen: Er war gar nicht an ihn adressiert. Er galt den anderen Leuten in der Kneipe und sollte ihnen mitteilen, dass sie Partei ergriffen hatte. Es war ein Flagge schwenkender Kuss. Noch während sie ihm die Lippen auf den Mund presste, gewann er den unumstößlichen Eindruck, dass sie ihn gar nicht mochte – nun ja, jedenfalls nicht auf diese Art.
Dennoch, es gab da eine Geschichte, die er vor langer Zeit, als kleiner Junge noch, gelesen hatte: die Geschichte eines Reisenden, der eine Klippe hinuntergerutscht war, über sich menschenfressende Tiger und unter sich der gähnende Abgrund; er hatte den Fall abbremsen können und hielt sich jetzt mit aller Kraft an der Klippe fest. Neben sich erblickte er ein Büschel Erdbeeren, über und unter ihm lauerte der sichere Tod. Was sollte er tun? , lautete die Frage.
Und die Antwort hieß: Die Erdbeeren essen.
Als Kind hatte er nicht begriffen, was die Geschichte ihm eigentlich sagen sollte, aber jetzt leuchtete sie ihm ein. Er schloss also die Augen, warf sich in den Kuss und nahm nichts mehr wahr außer Sams Lippen und die weiche Berührung ihrer Haut, süß wie eine wilde Erdbeere.
»Kommen Sie, Mike«, sagte Chad Mulligan entschieden. »Bitte. Gehen wir nach draußen.«
Sam ließ von ihm ab. Sie leckte sich die Lippen und lächelte, ein Lächeln, das beinahe die Augen mit einschloss. »Nicht schlecht«, sagte sie. »Für einen Jungen kannst du ziemlich gut küssen. Okay, geht draußen spielen.« Dann wandte sie sich Audrey Burton zu. »Aber Sie«, sagte sie, »sind trotzdem eine blöde Fotze.«
Shadow warf Sam seine Wagenschlüssel zu. Sie fing sie mit einer Hand. Er schritt durch die Kneipe und trat, gefolgt von Chad Mulligan, nach draußen. Es hatte leicht zu schneien begonnen, die Flocken schwebten kreisend in das Neonlicht des Kneipenschildes. »Wollen wir drüber reden?«, sagte Chad.
Audrey war ihnen auf den Gehsteig gefolgt. Sie sah aus, als wollte sie jeden Moment wieder losschreien. »Er hat zwei Männer umgebracht, Chad«, sagte sie. »Das FBI stand bei mir auf der Matte. Er
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