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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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im Heck des Busses schien nicht zu verwesen. Riechen konnte er sie schon – ein leichter Hauch von Jack Daniel’s, überlagert von etwas, das in Richtung saurer Honig ging. Aber es war kein unangenehmer Geruch. Von Zeit zu Zeit nahm er das Glasauge aus der Tasche und betrachtete es: Tief drinnen war es von der Wucht der Kugel, wie er vermutete, zerbrochen, die Oberfläche aber war, von einer Absplitterung seitlich der Iris abgesehen, unversehrt. Shadow ließ es durch die Hände gleiten, palmierte es, rollte es, schob es mit den Fingern hin und her. Es war ein grässliches Souvenir, dennoch seltsam tröstlich: Er vermutete, dass Wednesday es amüsant gefunden hätte, dass sein Auge nun in Shadows Tasche gelandet war.
    Das Farmhaus war dunkel und verriegelt. Die Wiesen waren überwuchert, offenbar hatte man sie aufgegeben. Auf der Rückseite des Hauses zerfiel das Dach und war mit schwarzen Plastikplanen abgedeckt worden. Nachdem sie über eine Anhöhe gerumpelt waren, erblickte Shadow den Baum.
    Er war silbergrau und höher als das Farmhaus. Es war der schönste Baum, den Shadow je zu Gesicht bekommen hatte: geisterhaft und dennoch überaus real und fast vollkommen symmetrisch. Auch schien er ihm auf Anhieb vertraut zu sein: Er fragte sich, ob er ihm bereits im Traum begegnet war, doch dann wurde ihm klar, dass er ihn, oder eine Nachbildung davon, wirklich schon viele Male gesehen hatte. Es war Wednesdays silberne Krawattennadel.
    Der VW-Bus hoppelte und holperte über die Wiese und kam etwa sechs Meter vom Baumstamm entfernt zum Stehen.
    Neben dem Baum standen drei Frauen. Auf den ersten Blick dachte Shadow, es wären die drei Sari, aber nein, es waren drei Frauen, die er nicht kannte. Sie wirkten müde und gelangweilt, als würden sie schon sehr lange dort stehen. Jede der Frauen hatte eine Holzleiter bei sich. Die größte von ihnen trug außerdem einen braunen Sack. Sie sahen aus wie ein Satz russischer Puppen: eine große – sie hatte Shadows Länge, mindestens –, eine mittelgroße und eine, die so klein und gebeugt war, dass Shadow sie zunächst irrtümlich für ein Kind gehalten hatte. Sie sahen einander so ähnlich, dass sie nur Schwestern sein konnten.
    Die kleinste der Frauen vollführte einen Knicks, als der Bus heranfuhr. Die anderen beiden blickten nur geradeaus. Sie teilten sich eine Zigarette, die sie bis zum Filter herunterrauchten, bevor eine von ihnen sie an einer Baumwurzel ausdrückte.
    Tschernibog öffnete die Hecktür, worauf sich die größte Frau an ihm vorbeidrängte und Wednesdays Leichnam, als wäre es ein handlicher Mehlsack, aus dem Wagen hob und zum Baum trug. Sie legte ihn etwa vier Schritte vom Stamm entfernt auf den Boden. Zusammen mit ihren Schwestern wickelte sie die Laken auseinander. Bei Tageslicht sah Wednesdays Leiche übler aus als noch im Kerzenlicht des Motelzimmers, und Shadow wandte schnell den Blick ab. Die Frauen richteten seinen Anzug etwas, legten den Leichnam dann auf den Rand des Lakens und schlugen dieses wieder über ihn.
    Schließlich traten die Frauen auf Shadow zu.
    Du bist derjenige, welcher? , fragte die Große.
    Der den Allvater betrauern wird? , fragte die Mittlere.
    Du hast die Totenwache übernommen? , fragte die Kleinste.
    Shadow nickte. Im Nachhinein war er nicht imstande zu sagen, ob er wirklich ihre Stimmen gehört hatte. Vielleicht hatte er das, was sie meinten, einfach ihren Blicken entnommen.
    Mr. Nancy, der zum Haus gegangen war, um die Toilette aufzusuchen, kam jetzt zum Baum zurück. Er rauchte einen Zigarillo. Er wirkte nachdenklich.
    »Shadow«, rief er. »Sie müssen das wirklich nicht tun. Wir können jederzeit jemanden finden, der geeigneter ist.«
    »Ich mache es«, sagte Shadow schlicht.
    »Und wenn Sie sterben?«, sagte Mr. Nancy. »Wenn es Sie umbringt?«
    »Dann«, sagte Shadow, »bringt es mich eben um.«
    Wütend schleuderte Mr. Nancy seinen Zigarillo auf die Wiese. »Ich hab ja bereits gesagt, dass Sie ein Schwachkopf sind, und dabei bleibe ich. Warum kapieren Sie’s denn nicht, wenn man Ihnen eine goldene Brücke bauen will?«
    »Tut mir Leid«, sagte Shadow. Weiter sagte er nichts. Nancy ging zurück zum Bus.
    Tschernibog trat auf Shadow zu. Er schien nicht sonderlich erfreut zu sein. »Sie müssen das lebend überstehen«, sagte er. »Stehen Sie die Sache durch, um meinetwillen.« Und dann klopfte er Shadow sanft mit dem Fingerknöchel gegen die Stirn und sagte: »Bumm!« Er drückte Shadow die Schulter, tätschelte ihn am Arm

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