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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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gelegentlichem Krachen, das wie weit entfernte Bomben in der Nacht explodierte. Der Wind zerrte an Shadow, wollte ihn vom Baum wegziehen, schüttelte ihn durch und fuhr ihm bis in die Knochen; und Shadow wusste im tiefsten Innern, dass der wahre Sturm tatsächlich begonnen hatte.
    Eine seltsame Freude stieg da in ihm auf, und er fing an zu lachen, während der Regen seine nackte Haut wusch und die Blitze zuckten und der Donner so laut grollte, dass er kaum das eigene Lachen hören konnte. Er frohlockte.
    Er war lebendig. Nie hatte er dergleichen gefühlt. Sein ganzes Leben lang nicht.
    Falls er tatsächlich sterben sollte, dachte er, falls er jetzt an diesem Baum starb, dann wäre es das für diesen einen vollkommenen, wahnsinnigen Moment wert.
    »He!«, rief er dem Sturm entgegen. »He! Ich bin es! Ich bin hier!«
    Er fing zwischen seiner nackten Schulter und dem Baumstamm etwas Wasser auf, dann bog er den Kopf herum, um von dem eingefangenen Regenwasser zu saugen und zu schlürfen, und er trank immer weiter und lachte, lachte vor Freude und Vergnügen, nicht vor Wahnsinn, lachte, bis er nicht mehr konnte, bis er zu erschöpft war, um auch nur ein Glied noch rühren zu können.
    Unter dem Baum hatte der Regen das auf der Erde liegende Laken durchsichtig werden lassen, es hochgehoben und verschoben, sodass Shadow nun sowohl Wednesdays tote, wächserne und blasse Hand als auch den Umriss des Kopfes erkennen konnte; er musste an das Turiner Grabtuch denken und erinnerte sich an die aufgeschnittene Frau auf Jacquels Tisch in Cairo, und dann, wie um der Kälte eine Nase zu drehen, stellte er fest, dass ihm warm und behaglich war, und die Borke des Baums fühlte sich weich an, und so schlief er wieder ein, und falls er irgendwelche Träume hatte, so konnte er sich diesmal an nichts erinnern.
     
    Am nächsten Morgen war der Schmerz kein lokaler mehr, nicht mehr auf die Stellen beschränkt, wo die Seile ins Fleisch schnitten oder die Borke an der Haut kratzte. Jetzt war der Schmerz überall.
    Er hatte Hunger und fühlte tief drinnen eine stechende Leere. Der Kopf pochte. Manchmal stellte er sich vor, er hätte aufgehört zu atmen, sein Herz hätte aufgehört zu schlagen. Dann hielt er den Atem an, bis ihm das Herz in den Ohren hämmerte und er gezwungen war, wie ein an die Wasseroberfläche stoßender Taucher nach Luft zu schnappen.
    Es schien ihm, als reichte der Baum vom Himmel bis zur Hölle und er selbst hätte seit Ewigkeiten dort gehangen. Ein brauner Falke umkreiste den Baum, landete auf einem zerbrochenen Ast in seiner Nähe und flog wieder nach Westen hin davon.
    Der Sturm, der beim Morgengrauen nachgelassen hatte, kehrte im Verlauf des Tages allmählich wieder. Graue, aufgewühlte Wolken erstreckten sich über den ganzen Horizont; es begann zu nieseln. Die Leiche unter dem Baum schien in ihrem fleckigen Motelleichentuch weniger geworden zu sein, in sich zerbröselt wie ein im Regen liegen gelassener Zuckerkuchen.
    Manchmal fror Shadow, manchmal war ihm heiß.
    Als der Donner wieder einsetzte, bildete er sich ein, Trommeln zu hören, Kesselpauken im Donner und im Pochen seines Herzens, ob im Kopf oder außerhalb, das spielte keine Rolle.
    Er nahm den Schmerz in Farben wahr: das Rot des Neonschilds einer Bar, das Grün einer Ampel an einem feuchten Abend, das Blau eines leeren Videobildschirms.
    Das Eichhörnchen sprang ihm von der Borke des Baumstamms auf die Schulter und grub ihm dabei scharfe Krallen in die Haut. »Ratatöskr!«, schnatterte es. Mit der Nasenspitze berührte es Shadows Lippen. »Ratatöskr.« Es sprang auf den Baum zurück.
    Ein brennendes Kribbeln überzog seine Haut und bedeckte schließlich den ganzen Körper. Das Gefühl war unerträglich.
    Sein Leben lag unter ihm ausgebreitet auf dem Bettlaken-Leichentuch: buchstäblich ausgebreitet wie die Gegenstände bei einem Dada-Picknick, wie ein surrealistisches Tableau: Er konnte den verwirrten Blick seiner Mutter sehen, die amerikanische Botschaft in Norwegen, Lauras Augen bei ihrer Hochzeit …
    Er kicherte durch trockene Lippen.
    »Was gibt’s denn da zu kichern, Hündchen?«, fragte Laura.
    »Unsere Hochzeit«, sagte er. »Du hast den Organisten bestochen, dass er statt des Hochzeitsmarsches die Titelmelodie von Scooby Doo spielt, während du zum Traualtar heraufgeschritten kommst. Erinnerst du dich?«
    »Natürlich erinnere ich mich, Liebling. ›I would have gotten away with it, if it wasn’t for those meddling kids‹.«
    »Ich habe dich

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