American Gods
»Du stirbst mir da oben. Oder du wirst zum Krüppel, wenn du es nicht schon bist.«
»Vielleicht«, sagte er. »Aber ich bin lebendig.«
»Ja«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Das bist du wohl.«
»Du hast mir davon erzählt«, sagte er. »Auf dem Friedhof.«
»Es kommt mir vor, als wäre das schon ewig her, Hündchen«, sagte sie. Und dann: »Hier fühle ich mich besser. Es schmerzt weniger. Weißt du, was ich meine? Aber ich bin so trocken.«
Der Wind ließ nach, und jetzt konnte er sie riechen: ein Gestank von vergammeltem Fleisch, Krankheit und Verfall, durchdringend und unangenehm.
»Ich habe meinen Job verloren«, sagte sie. »Es war Nachtarbeit, aber angeblich hätten sich die Leute beschwert. Ich hab ihnen gesagt, ich sei krank, aber sie meinten, das wäre ihnen egal. Ich hab so einen Durst.«
»Die Frauen«, sagte er ihr. »Die haben Wasser. Das Haus.«
»Hündchen …« Sie klang ängstlich.
»Sag ihnen … Sag ihnen, ich hätte gesagt, sie sollen dir Wasser geben.«
Das weiße Gesicht starrte zu ihm herauf. »Ich sollte gehen«, sagte sie. Dann hustete sie trocken, verzog das Gesicht und spuckte irgendeine weiße Masse aufs Gras. Die weiße Masse löste sich auf, als sie auf dem Boden auftraf, und schlängelte sich davon.
Es war fast unmöglich zu atmen. Ihm lastete ein schwerer Druck auf der Brust, und mit dem Kopf schwankte er hin und her.
»Bleib«, sagte er, hauchte es vielmehr, nicht sicher, ob sie ihn überhaupt hören konnte. »Bitte geh nicht.« Er fing wieder zu husten an. »Bleib über Nacht.«
»Ich werde mich ein bisschen hier aufhalten«, antwortete sie. Und wie eine Mutter zu ihrem Kind sagte sie: »Dir wird nichts passieren, solange ich hier bin. Weißt du das?«
Shadow hustete. Er schloss die Augen – nur für einen Augenblick, dachte er, aber als er sie wieder aufschlug, war der Mond untergegangen, und er war allein.
Ein Krachen und Pochen im Kopf, heftiger als Migräneschmerz, heftiger als aller Schmerz. Alles löste sich in winzige Schmetterlinge auf, die ihn wie ein vielfarbiger Staubwirbel umkreisten und sich dann in die Nacht hinaus verflüchtigten.
Das weiße Bettlaken, das um den Leichnam unter dem Baum gewickelt war, flatterte geräuschvoll im Morgenwind.
Das Pochen beruhigte sich. Alles wurde langsamer. Es war nichts mehr da, was ihn veranlasste weiterzuatmen. Das Herz hörte in der Brust auf zu schlagen.
Die Dunkelheit, in die er diesmal eintrat, war tief, von einem einzelnen Stern erleuchtet, und sie war endgültig.
16
Ich weiß, dass es Beschiss ist. Aber es ist das einzige Spiel in dieser Stadt.
– Canada Bill Jones
Der Baum war verschwunden, die Welt war verschwunden, und der morgengraue Himmel über ihm war auch verschwunden. Der Himmel war jetzt mitternachtsfarben. Ein einziger kalter Stern, ein hell glänzendes Licht, funkelte über ihm und sonst nichts. Er machte einen Schritt vorwärts, einen nur, und wäre dabei beinahe gestolpert.
Shadow sah nach unten. In den Fels waren Stufen geschnitten, die nach unten führten, riesige Stufen, nicht anders vorstellbar, als dass sie von Riesen geschlagen und vor langer Zeit beschritten worden waren.
Er kletterte, von Stufe zu Stufe abwärts, halb springend, halb sich schwingend. Es schmerzte ihn am ganzen Körper, aber es war der Schmerz des Ungeübtseins, nicht der quälende Schmerz eines Körpers, der an einem Baum gehangen hatte, bis er tot war.
Ohne Überraschung nahm er zur Kenntnis, dass er vollständig mit Jeans und einem weißen T-Shirt bekleidet war. Allerdings barfuß. Er hatte ein lebhaftes Déjà-vu-Empfinden: Es waren die gleichen Sachen, die er in Tschernibogs Wohnung getragen hatte, als Sarja Polunotschnaja nachts zu ihm gekommen war und ihm von dem Sternbild namens Odins Wagen erzählt hatte. Sie hatte für ihn den Mond aus dem Himmel gepflückt.
Plötzlich wusste er, was als Nächstes geschehen würde. Er würde Sarja Polunotschnaja begegnen.
Sie erwartete ihn am Fuß der Felstreppe. Am Himmel war kein Mond zu sehen, dennoch stand sie im Mondschein: Ihr weißes Haar war mondblass, und sie trug das gleiche Baumwollnachthemd wie in jener Nacht in Chicago.
Sie lächelte, als sie ihn sah, und schlug die Augen nieder, als wäre sie für einen Augenblick verlegen. »Hallo«, sagte sie.
»Hi«, sagte Shadow.
»Wie geht’s Ihnen?«
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich glaube, dass das hier vielleicht wieder so ein seltsamer Traum am Baum ist. Seit ich aus dem Gefängnis
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