American Gods
er.
Als er die Augen aufschlug, sah Shadow, dass da ein junger Mann bei ihm im Baum war.
Seine Haut war dunkelbraun. Er hatte eine hohe Stirn und dunkles, dicht gelocktes Haar. Er saß auf einem Ast hoch über ihm. Wenn er den Hals reckte, konnte Shadow ihn deutlich sehen. Und der Mann war verrückt. Das erkannte Shadow auf einen Blick.
»Du bist nackt«, vertraute der Verrückte ihm mit brüchiger Stimme an. »Auch ich bin nackt.«
»Das sehe ich«, krächzte Shadow.
Der Verrückte sah ihn an, dann nickte er und bog den Kopf nach unten und zur Seite, als wollte er den steifen Hals dehnen. Schließlich sagte er: »Kennst du mich?«
»Nein«, sagte Shadow.
»Aber ich kenne dich. Ich habe dich in Cairo beobachtet. Auch später habe ich dich beobachtet. Meine Schwester mag dich.«
»Du bist …« Ihm fiel der Name nicht ein. Frisst überfahrene Tiere. Ja. »Du bist Horus.«
Der Verrückte nickte. »Horus«, sagte er. »Ich bin der Falke des Morgens, der Greifvogel des Nachmittags. Ich bin die Sonne, so wie du. Und ich kenne den wahren Namen von Ra. Meine Mutter hat ihn mir verraten.«
»Das ist großartig«, sagte Shadow höflich.
Der Verrückte starrte, ohne etwas zu sagen, aufmerksam auf den Boden unter ihnen. Dann ließ er sich vom Baum fallen.
Ein Falke fiel wie ein Stein zu Boden, wechselte aus dem Sturz in einen Sturzflug über, schlug heftig mit den Flügeln und flog, ein kleines Kaninchen in den Klauen tragend, zurück zum Baum. Er landete auf einem Ast, jetzt näher bei Shadow.
»Hast du Hunger?«, fragte der Verrückte.
»Nein«, sagte Shadow. »Wahrscheinlich sollte ich, aber ich habe keinen.«
»Aber ich habe Hunger«, sagte der Verrückte. Er aß das Kaninchen auf hastige Weise, riss es auseinander, saugte und zerrte daran. Als er damit fertig war, ließ er die abgenagten Knochen und das Fell auf den Boden fallen. Er ging auf dem Ast entlang, bis er nur noch eine Armlänge von Shadow entfernt war. Er nahm Shadow ganz unbefangen unter die Lupe, betrachtete ihn mit Sorgfalt und Vorsicht von Kopf bis Fuß. Er hatte Kaninchenblut auf dem Kinn und auf der Brust, und er wischte es mit dem Handrücken ab.
Shadow hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. »He«, sagte er also.
»He«, sagte der Verrückte. Er richtete sich auf, wandte sich von Shadow ab und schickte einen dunklen Urinstrahl hinunter auf die Wiese. Es dauerte ziemlich lange. Als er damit fertig war, hockte er sich wieder auf den Ast.
»Wie wirst du genannt?«, fragte Horus.
»Shadow«, sagte Shadow.
Der Verrückte nickte. »Du bist der Schatten, ich bin das Licht«, sagte er. »Alles was ist, wirft einen Schatten.« Dann sagte er: »Sie werden bald kämpfen. Ich habe beobachtet, wie die Ersten eingetroffen sind.«
Und dann sagte der Verrückte: »Du bist dabei zu sterben. Ist es nicht so?«
Aber Shadow konnte nicht mehr sprechen. Ein Falke flog auf, kreiste langsam aufwärts und schwang sich mit den Aufwinden in den Morgen hinein.
Mondschein.
Ein Husten schüttelte Shadow am ganzen Körper, ein quälender Husten, der in Brust und Hals stach. Er schnappte nach Luft.
»He, Hündchen«, rief eine Stimme, die er kannte.
Er sah nach unten.
Das Mondlicht schien weiß durch die Zweige, hell wie der Tag, und in dem Mondlicht, unter ihm auf dem Boden, stand eine Frau, ihr Gesicht ein blasses Oval. Der Wind rauschte in den Zweigen.
»Hi, Hündchen«, sagte sie.
Er versuchte zu sprechen, aber stattdessen hustete er, lange und tief aus der Brust.
»Na ja«, sagte sie hilfreich, »das klingt aber gar nicht gut.«
»Hallo, Laura«, krächzte er.
Sie sah mit toten Augen zu ihm herauf und lächelte.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte er.
Eine Zeit lang stand sie schweigend im Mondschein da. Dann sagte sie: »Du bist das Nächste zum Leben, was ich habe. Du bist das Einzige, was mir geblieben ist, das Einzige, was nicht düster und schal und grau ist. Man könnte mir die Augen verbinden und mich im tiefsten Ozean versenken, aber ich würde dich doch finden. Ich könnte hundert Meilen unter der Erde vergraben sein und wüsste doch, wo du bist.«
Er sah hinunter zu der Frau im Mondschein. Die Tränen brannten ihm in den Augen.
»Ich schneide dich ab«, sagte sie nach einer Weile. »Ich verbringe reichlich viel Zeit damit, dich aus Zwickmühlen zu befreien, findest du nicht?«
Er hustete wieder. »Nein, lass mich dran. Ich muss das tun.«
Sie sah zu ihm herauf und schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt«, sagte sie.
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