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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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eilte weiter, drängte durch das graue Büro des Direktors und fand sich vor der Videorecorder-Reparaturwerkstatt am Stadtrand von Eagle Point wieder. Vor drei Jahren. Ja.
    Im Laden, das wusste er, war er eben dabei, Larry Powers und B. J. West die Knochen aus dem Leib zu prügeln, so lange, bis er sich die Knöchel wund geschlagen hatte: Gleich würde er mit einer braunen Papiertüte voller Zwanzigdollarscheine unter dem Arm aus dem Laden spaziert kommen. Das Geld, das genommen zu haben man ihm nie nachweisen konnte: sein Anteil am Erlös und noch ein bisschen mehr, denn sie hätten nicht versuchen sollen, ihn und Laura derart übers Ohr zu hauen. Er war nur der Fahrer gewesen, aber er hatte seinen Teil getan, hatte alles getan, worum sie ihn gebeten hatte …
    Während des Prozesses sprach niemand von dem Bankraub, obwohl alle es gern getan hätten. Sie konnten nichts beweisen, solange niemand redete. Aber das tat keiner. Stattdessen musste der Staatsanwalt sich an die Körperverletzung halten, die Shadow an Powers und West begangen hatte. Er zeigte Fotos der beiden Männer bei ihrer Ankunft im örtlichen Krankenhaus herum. Shadow verteidigte sich vor Gericht so gut wie gar nicht; das machte es leichter. Weder Powers noch West schienen sich erinnern zu können, worum es bei der Prügelei eigentlich gegangen war, doch bestätigten beide, dass es sich bei dem Angreifer um Shadow gehandelt habe.
    Niemand redete über das Geld.
    Niemand erwähnte auch nur den Namen Laura, und das war alles, worauf es Shadow ankam.
    Shadow fragte sich, ob der Pfad der tröstlichen Lügen nicht doch die bessere Wahl gewesen wäre. Er entfernte sich von jenem Ort und folgte dem Felsweg, der weiter nach unten führte, offenbar in ein Krankenzimmer, ein Zimmer in einem städtischen Krankenhaus in Chicago, und er fühlte, wie ihm die Gallenflüssigkeit im Hals aufstieg. Er blieb stehen. Er wollte nicht hinsehen. Er wollte nicht weitergehen.
    Im Krankenhausbett lag seine Mutter wieder im Sterben, genau wie sie damals im Sterben gelegen hatte, und, ja, da war er, ein großer, unbeholfener Sechzehnjähriger, mit von Akne durchlöcherter, fleckiger Haut, der neben ihr in einem dicken Taschenbuch las, weil er unfähig war, sie anzusehen. Shadow wollte wissen, was für ein Buch das war, deshalb ging er um das Bett herum, um es näher in Augenschein zu nehmen. Er stand zwischen Bett und Stuhl und blickte von einem zum anderen. Der große Junge kauerte auf dem Stuhl und hatte die Nase in Die Enden der Parabel vergraben, um vor dem Tod seiner Mutter in das London des Blitzkriegs zu flüchten, ohne dass der fiktionale Wahnsinn des Buches ihm Zuflucht noch Ausrede geboten hätte.
    Mit geschlossenen Augen lag seine Mutter friedlich da – ein Morphiumfrieden: Was sie für eine ihrer Sichelzellenkrisen gehalten hatte, einen weiteren Schmerzanfall, der eben zu erdulden war, das hatte sich, zu spät entdeckt, als Lymphom erwiesen. Ihre Haut hatte eine gelblich graue Färbung. Sie war Anfang dreißig, sah aber viel älter aus.
    Shadow wollte sich schütteln, ihn, den ungeschickten Jungen, der er einst war, wollte ihn veranlassen, ihr die Hand zu halten, zu ihr zu sprechen, irgendwas zu tun, bevor sie ihm für immer entglitt, was sie, wie er wohl wusste, bald tun würde. Aber er konnte sich nicht berühren, und er, der da, fuhr fort zu lesen; und so starb seine Mutter, während er auf dem Stuhl neben ihr saß und sich in die Schwerliteratur vergrub.
    Danach hatte er das Lesen mehr oder weniger aufgegeben. Den Romanen war nicht zu trauen. Zu was sollten Bücher gut sein, wenn sie einen vor so etwas nicht beschützen konnten?
    Shadow ließ das Krankenzimmer hinter sich, ging den sich schlängelnden Korridor entlang, tief hinab ins Innere der Erde.
    Zuerst sieht er seine Mutter, und er kann nicht glauben, wie jung sie ist, noch keine fünfundzwanzig, schätzt er, zur Zeit vor ihrer krankheitsbedingten Entlassung also. Sie sind in ihrer Wohnung, eine der Botschaftswohnungen irgendwo in Nordeuropa. Er blickt sich um, sucht nach Anhaltspunkten und sieht wieder sich selbst: ein kleiner Knirps, große, blassgraue Augen und dunkles Haar. Sie streiten sich. Ohne die Worte zu hören, weiß Shadow, worum der Streit geht: Schließlich war es das Einzige, worüber sie sich je stritten.
    Erzähl mir von meinem Vater.
    Er ist tot. Mehr brauchst du nicht zu wissen.
    Aber wer war er?
    Vergiss ihn einfach. Du hast absolut nichts verpasst.
    Ich möchte ein Foto von ihm

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