American Gods
raus bin, habe ich lauter verrückte Träume.«
Ihr Gesicht schimmerte vom Mondlicht silbern (obwohl kein Mond an diesem pflaumenschwarzen Himmel hing, und jetzt, am unteren Ende der Stufen, war selbst der einzelne Stern nicht mehr zu sehen), was sie sowohl feierlich als auch verletzlich wirken ließ. »Alle Ihre Fragen können beantwortet werden«, sagte sie. »Falls es das ist, was Sie möchten. Aber wenn Sie die Antworten einmal gehört haben, können Sie sie nie wieder vergessen.«
Hinter ihr gabelte sich der Weg. Er würde sich für einen der Wege entscheiden müssen, so viel war klar. Aber etwas gab es noch, das er vorher tun musste. Er griff in die Tasche der Jeans und war erleichtert, ganz unten das vertraute Gewicht der Münze zu ertasten. Er zog sie heraus und hielt sie zwischen Zeigefinger und Daumen: ein Liberty-Dollar von 1922. »Das ist Ihrer«, sagte er.
In diesem Moment fiel ihm ein, dass seine Kleider in Wirklichkeit ja unter dem Baum lagen. Die Frauen hatten seine Sachen in den Segeltuchsack gepackt, aus dem sie die Seile geschüttelt hatten, hatten ihn zugebunden, und die große Frau hatte einen schweren Stein darauf gelegt, damit er nicht wegwehte. Er wusste also, dass der Liberty-Dollar eigentlich in einer Tasche in diesem Sack unter dem Stein steckte. Dennoch lag er jetzt schwer in seiner Hand, hier am Eingang zur Unterwelt.
Sie ergriff ihn mit ihren schlanken Fingern.
»Danke. Zweimal hat er Ihnen die Freiheit erkauft«, sagte sie. »Und jetzt wird er Ihnen den Weg in dunkle Gefilde erleichtern.«
Sie schloss die Hand um den Dollar, streckte sie aus und legte ihn so hoch in die Luft, wie ihr Arm reichte. Dann ließ sie ihn los. Anstatt hinunterzufallen, schwebte die Münze jedoch aufwärts, bis sie etwa eine Armlänge über Shadow hing. Allerdings war es jetzt keine Silbermünze mehr. Lady Liberty und ihre Dornenkrone waren verschwunden. Das Gesicht, das er nunmehr auf der Münze sah, war das unbestimmte Antlitz des Mondes am Sommerhimmel.
Shadow konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er auf einen Mond von der Größe eines Dollars schaute, der eine Armlänge von seinem Kopf entfernt war, oder ob es sich um einen Mond von der Größe des Pazifischen Ozeans, der viele tausend Meilen entfernt war, handelte. Und auch nicht, ob zwischen diesen beiden Möglichkeiten ein Unterschied bestand. Vielleicht hing alles davon ab, wie man die Sache betrachtete.
Er blickte auf den Weg, der sich vor ihm gabelte.
»Welchen Weg sollte ich gehen?«, fragte er. »Welcher ist sicher?«
»Entscheiden Sie sich für den einen, können Sie den anderen nicht mehr nehmen«, sagte sie. »Doch sicher ist keiner der beiden Wege. Welchen Pfad möchten Sie beschreiten – den der harten Wahrheiten oder den der schönen Lügen?«
»Wahrheiten«, sagte er. »Keine Lügen mehr, dafür komme ich von zu weit her.«
Sie sah traurig aus. »Das wird aber seinen Preis haben«, sagte sie.
»Ich zahle ihn. Was kostet es?«
»Ihren Namen«, sagte sie. »Ihren richtigen Namen. Sie werden ihn mir geben müssen.«
»Wie denn?«
»So«, sagte sie. Ihre vollkommene Hand griff nach seinem Kopf. Er fühlte ihre Finger über seine Haut streichen, dann fühlte er, wie sie die Haut, den Schädel durchdrangen, fühlte, wie sie tief in den Kopf hineinstießen. Es kitzelte im Schädel und die ganze Wirbelsäule hinunter. Sie zog die Hand wieder aus dem Kopf. Eine Flamme wie von einer Kerze, aber völlig klar, magnesiumweiß brennend, flackerte auf der Spitze ihres Zeigefingers.
»Ist das mein Name?«, fragte er.
Sie schloss die Hand, worauf das Licht verschwand. »Das war er«, sagte sie. Sie deutete auf den nach rechts führenden Weg. »Da entlang«, sagte sie. »Fürs Erste.«
Namenlos ging Shadow im Mondschein die rechte Weggabelung entlang. Als er sich umdrehte, um ihr zu danken, sah er nichts als Dunkelheit. Es schien ihm, als wäre er tief unter der Erde, aber als er in die Dunkelheit hinaufblickte, war da immer noch der winzige Mond.
Er bog um eine Ecke.
Falls das hier das Leben nach dem Tod ist, dachte er, dann hat es viel Ähnlichkeit mit dem House on the Rock: teils Diorama, teils Albtraum.
Er sah sich in der blauen Anstaltskleidung im Büro des Gefängnisdirektors stehen, während dieser ihm mitteilte, dass Laura bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Er sah den Ausdruck auf dem eigenen Gesicht – ein Mann, der von der Welt im Stich gelassen worden war. Es tat weh, es zu sehen, all die Nacktheit und Furcht. Er
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