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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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sagte sie, dann kniff sie den Mund zusammen, hob den Kopf so hoch, dass ihr Doppelkinn zitterte, und blickte wortlos geradeaus.
    Zu Shadows Überraschung war auch Audrey Burton zur Beerdigung gekommen und stand ziemlich weit hinten. Die Andacht ging schnell zu Ende, und der Sarg wurde in die kalte Erde hinabgelassen. Die Leute zerstreuten sich.
    Shadow ging nicht. Er stand da, die Hände in den Taschen, vor Kälte zitternd, und starrte in das Erdloch.
    Der Himmel über ihm war eisengrau, eintönig und flach wie ein Spiegel. Es schneite immer noch, unregelmäßig, wie Geister taumelten die Flocken herab.
    Da war etwas, was er Laura sagen wollte, und er war bereit zu warten, bis er wusste, was es war. Langsam verlor die Welt ihr Licht und ihre Farbe. Shadow wurden die Füße taub, Hände und Gesicht schmerzten vor Kälte. Er stopfte die Hände wieder in die Jackentaschen, um sie etwas aufzuwärmen, und umschloss mit den Fingern die Goldmünze.
    Er ging zum Grab.
    »Das hier ist für dich«, sagte er.
    Obwohl zuvor einige Schaufeln Erde auf den Sarg geworfen wurden, war das Loch bei weitem noch nicht voll. Er warf die Goldmünze zu Laura ins Grab, dann schob er Erde hinterher, um die Münze vor raffsüchtigen Totengräbern zu verbergen. Er klopfte sich die Hände ab und sagte: »Gute Nacht, Laura.« Dann sagte er: »Es tut mir Leid.« Er wandte das Gesicht den Lichtern der Stadt zu und setzte sich in Richtung Eagle Point in Bewegung.
    Das Motel war fast vier Kilometer entfernt, aber nachdem er drei Jahre im Gefängnis verbracht hatte, fand er die Vorstellung sehr reizvoll, dass er einfach unablässig gehen könnte, notfalls auch auf ewig. Er könnte immer weiter nach Norden wandern, um dann in Alaska zu landen, sich aber auch nach Süden wenden, bis nach Mexiko und darüber hinaus. Er könnte nach Patagonien wandern oder gar bis nach Feuerland.
    Neben ihm hielt ein Auto an. Das Fenster ging summend hinunter.
    »Soll ich dich mitnehmen, Shadow?«, fragte Audrey Burton.
    »Nein«, sagte er. »Du schon gar nicht.«
    Er ging weiter. Audrey fuhr im Schritttempo neben ihm her. Schneeflocken tanzten im Lichtkegel der Scheinwerfer.
    »Ich dachte, sie wäre meine beste Freundin«, sagte Audrey. »Wir haben jeden Tag miteinander geredet. Wenn Robbie und ich uns gestritten haben, war sie die Erste, die es erfahren hat – wir sind dann auf ein paar Margaritas ins Chi-Chi’s gegangen und haben beredet, was für Kotzbrocken die Männer doch sein können. Und die ganze Zeit hat sie hinter meinem Rücken mit ihm gevögelt.«
    »Bitte lass mich allein, Audrey.«
    »Du solltest nur wissen, dass ich gute Gründe für das hatte, was ich getan habe.«
    Er blieb stumm.
    »He!«, rief sie. »He! Ich rede mit dir!«
    Shadow drehte sich zu ihr. »Erwartest du von mir etwa, dass ich dir Recht darin gebe, Laura ins Gesicht zu spucken? Soll ich so tun, als ob mir das nicht wehgetan hätte? Oder soll ich dir etwa sagen, dass ich sie nach allem, was du mir erzählt hast, jetzt mehr hasse als vermisse? Vergiss es, Audrey.«
    Sie fuhr zunächst wortlos weiter neben ihm her. Dann sagte sie: »Also gut, wie war’s denn im Gefängnis, Shadow?«
    »Es war sehr schön«, sagte Shadow. »Du hättest dich ganz wie zu Hause gefühlt.«
    Sie trat aufs Gaspedal, ließ den Motor aufheulen und fuhr davon.
    Als die Scheinwerfer verschwunden waren, war die Welt dunkel. Das Restlicht der Dämmerung war gewichen, die Nacht angebrochen. Shadow wartete unverdrossen darauf, dass das Gehen ihn wärmen und die Kälte aus Händen und Füßen vertreiben würde. Nichts dergleichen geschah.
    Im Gefängnis hatte Low Key Lyesmith einst den kleinen Gefängnisfriedhof draußen hinter der Krankenstation als Knochengarten bezeichnet, und dieses Bild hatte in Shadows Vorstellung Wurzeln geschlagen. In jener Nacht hatte er von einem Obstgarten im Mondschein geträumt, von skelettartigen weißen Bäumen, deren Zweige in knochigen Händen ausliefen und deren Wurzeln tief in die Gräber hinabreichten. In seinem Traum wuchs auf den Bäumen des Knochengartens Obst, und diesen geträumten Früchten haftete etwas sehr Verstörendes an, aber beim Aufwachen konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was für seltsame Früchte es gewesen waren, die an jenen Bäumen hingen, und warum er sie so abstoßend gefunden hatte.
    Autos fuhren an ihm vorbei. Shadow hätte sich einen Bürgersteig gewünscht. Er stolperte über etwas, was er im Dunkeln übersehen hatte, und landete im Straßengraben; mit

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