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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Formalin, Hundertfüßer und Maden. Und dann fühlte sie, wie sich Darm und Blase zu entleeren begannen: Gewaltsam und nass drängte es aus ihrem Körper. Sie hätte geschrien, wenn sie gekonnt hätte, aber dann schossen die staubigen Bodendielen so schnell und heftig auf sie zu, dass es ihr den Atem aus dem Leib gepresst haben würde, wenn sie denn geatmet hätte.
    Die Zeit rauschte, wie ein Staubteufel wirbelnd, über sie hinweg und in sie hinein. Tausend Erinnerungen setzten gleichzeitig ein: Sie irrte in der Woche vor Weihnachten durch ein Kaufhaus, konnte ihren Vater aber nirgends finden; jetzt saß sie an der Theke im Chi-Chi’s, bestellte sich einen Erdbeer-Daiquiri und begutachtete ihr Blinddate, das große, ernste Mannkind, und fragte sich, wie er wohl küsste; dann war sie im Auto, das plötzlich, welch Entsetzen, durch die Gegend schleuderte, und Robbie schrie auf sie ein, bis der Metallpfosten endlich den Wagen zum Halten brachte, nicht aber dessen Insassen …
    Das Wasser der Zeit, das aus der Quelle des Schicksals, Urds Brunnen, entspringt, ist nicht gerade das Wasser des Lebens. Nicht ganz jedenfalls. Immerhin versorgt es jedoch die Wurzeln des Weltenbaums. Es gibt aber kein Wasser, das ihm gleicht.
     
    Als Laura in der leeren Stube des Farmhauses erwachte, zitterte sie und, wahrhaftig, ihr Atem dampfte in der morgendlichen Luft. Sie hatte einen Kratzer auf dem Handrücken, der im lebhaften Rot frischen Blutes nässend verschmiert war.
    Sie wusste, wohin sie zu gehen hatte. Sie hatte vom Wasser der Zeit getrunken, das aus der Quelle des Schicksals kam. Vor ihrem inneren Auge sah sie den Berg.
    Sie leckte sich das Blut von der Hand, staunte über den hinterlassenen Speichelfilm und marschierte los.
     
    Es war ein nasser Märztag, der für die Jahreszeit zu kalt war. In den letzten Tagen waren Stürme durch die südlichen Bundesstaaten gefegt, sodass jetzt nur sehr wenige Touristen Rock City auf dem Lookout Mountain besuchten. Die Weihnachtsbeleuchtung war längst abgebaut worden, aber der große Strom der Sommerbesucher stand noch aus.
    Dennoch waren Leute da. An diesem Morgen fuhr sogar ein Reisebus vor, dem ein Dutzend Männer und Frauen mit strahlendem, Optimismus verströmendem Lächeln entstiegen. Sie sahen wie frisch gebackene Nachrichtenmoderatoren aus, und fast meinte man, ihnen etwas Phosphorpunkthaftes ansehen zu können: Sie schienen leicht zu flimmern, wenn sie sich bewegten. Auf dem Hauptparkplatz stand ein schwarzer Militärgeländewagen.
    Die Fernsehleute spazierten aufmerksam durch Rock City und nahmen schließlich nahe des balancierenden Steins Aufstellung, wo sie sich mit angenehmen, gemessenen Stimmen unterhielten.
    Sie waren nicht die Einzigen, die mit dieser Welle von Besuchern kamen. Hätte man an diesem Tag die Pfade von Rock City beschritten, wären einem unter Umständen auch Leute begegnet, die wie Filmstars aussahen, oder solche, die wie Außerirdische aussahen, oder auch einer Reihe von Leuten, die in erster Linie wie die Vorstellung einer Person aussahen, nicht aber wie die Realität. Man hätte sie möglicherweise gesehen, wenn es auch wahrscheinlicher ist, dass man sie gar nicht bemerkt hätte.
    Sie kamen in langen Limousinen, in kleinen Sportwagen und in überdimensionierten Geländefahrzeugen nach Rock City. Viele trugen die Sonnenbrillen derer, die ständig, sei’s drinnen oder draußen, Sonnenbrillen tragen, weil sie sich ohne sie nackt fühlen würden. Man begegnete Lächeln, Liebenswürdigkeit und Leichtfertigkeit, aber auch Melancholie und Mürrischkeit. Sie kamen in allen Größen und Gestalten, allen Moden und Altersklassen.
    Was sie aber gemeinsam hatten, das war ein Ausdruck, ein ganz bestimmter Blick. Er besagte: Du kennst mich; oder auch: Du solltest mich kennen. Eine spontane Vertrautheit, die auch Distanz war, ein Ausdruck oder eine Haltung – das Vertrauen darauf, dass die Welt für sie existierte, dass sie sie willkommen hieß, sie anbetete.
    Der dicke Junge bewegte sich unter ihnen mit dem schlurfenden Gang dessen, der, obwohl er über keinerlei Umgangsformen verfügte, mehr erreicht hatte, als er sich je hätte träumen lassen. Sein schwarzer Mantel flatterte im Wind.
    Etwas, das sich neben dem Erfrischungsgetränkestand im Mother-Goose-Hof aufhielt, hustete, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Es war von massiver Statur, aus dem Gesicht und den Fingern ragten ihm Skalpellklingen. Das Gesicht war voller Krebsgeschwüre. »Das wird eine gewaltige

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