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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Town schon verschiedentlich aufgefallen war. Immerhin hatte er es auch lustig gefunden, in Kansas den Chauffeur zu spielen.
    »Aber …«
    »Keine Märtyrer, Town.«
    Town hatte daraufhin genickt, sich das Messer samt Scheide gegriffen und die Wut, die ihn ihm aufwallte, ganz weit weggedrückt, wo sie nichts anrichten konnte.
    Der Hass auf Shadow war ein Teil von Mr. Town geworden. Wenn er abends im Bett lag, sah er Shadows ernstes Gesicht vor sich, sah dieses Lächeln, das gar keines war, diese Manier von Shadow, zu lächeln, ohne zu lächeln, die in Town jedesmal den Wunsch wachrief, dem Mann die Faust in den Magen zu rammen, und noch beim Einschlafen fühlte er, wie seine Backenknochen mahlten, seine Schläfen sich verspannten und ihm die Kehle brannte.
    Er steuerte den Ford Explorer an einem verlassenen Farmhaus vorbei über die Wiese. Nachdem er eine Anhöhe erklommen hatte, sah er den Baum. Er parkte den Wagen ein Stückchen dahinter und stellte den Motor ab. Die Uhr auf dem Armaturenbrett veriet ihm, dass es 6.38 Uhr morgens war. Er ließ den Schlüssel stecken und ging auf den Baum zu.
    Der Baum war groß; er schien nach ganz eigenen Maßstäben angelegt zu sein. Town hätte nicht sagen können, ob er zwanzig Meter hoch war oder hundert. Die Borke war so grau wie ein feiner Seidenschal.
    Etwas oberhalb des Bodens war mittels eines Netzwerks aus Seilen ein nackter Mann an den Stamm gebunden, und zu Füßen des Baums war etwas in ein Tuch gewickelt. Im Vorbeigehen erkannte Town, was es war. Er stieß mit dem Fuß gegen das Tuch. Wednesdays zerstörtes Halbgesicht starrte ihn von unten herauf an.
    Town erreichte den Baum. Er ging ein Stück um den dicken Stamm herum, aus dem Blickfeld der blinden Farmhausaugen heraus, öffnete dann die Hose und pinkelte gegen den Baum. Er zog den Reißverschluss wieder hoch. Er ging zurück zum Haus, wo er eine hölzerne Ausziehleiter fand, die er gleich zum Baum trug. Er lehnte sie sorgfältig an den Stamm. Dann stieg er hinauf.
    Shadow hing schlaff in den Seilen, die ihn an den Baum banden. Town fragte sich, ob der Mann überhaupt noch lebte: Der Brustkasten hob und senkte sich jedenfalls nicht. Tot oder so gut wie tot, das spielte keine große Rolle.
    »Hallo, Arschloch«, sagte Town laut. Shadow rührte sich nicht.
    Als Town am oberen Ende der Leiter angelangt war, zückte er das Messer. Er suchte sich einen kleinen Ast aus, der Mr. Worlds Anforderungen zu genügen schien, und hackte mit der Messerklinge in die Stelle, wo er vom Stamm abzweigte; er schnitt ihn halb durch, den Rest brach er mit der Hand ab. Der Ast war etwa einen Dreiviertelmeter lang.
    Er steckte das Messer wieder in die Scheide und begann damit, die Leiter wieder hinunterzusteigen. Als er auf gleicher Höhe mit Shadow war, hielt er an. »Gott, ich hasse dich«, sagte er. Am liebsten hätte er einfach seine Pistole genommen und ihn abgeknallt, ihm war aber klar, dass das nicht ging. Und dann stieß er den Stock durch die Luft auf den hängenden Mann zu, so als wollte er ihn erstechen. Es war eine unwillkürliche Handlung, in der Towns ganze Wut und Frustration enthalten war. Er stellte sich vor, dass er einen Speer in der Hand hielte und ihn Shadow in die Eingeweide bohrte.
    »Auf geht’s«, sagte er laut zu sich. »Zeit, abzuhauen.« Erstes Anzeichen von Verrücktheit, dachte er. Selbstgespräche führen. Er stieg noch ein paar Sprossen weiter nach unten und sprang dann das restliche Stück bis zum Boden. Er betrachtete den Stock in seiner Hand und fühlte sich wie ein kleiner Junge, der seinen Stock wie ein Schwert oder einen Speer hielt. Ich hätte eigentlich von jedem beliebigen Baum einen Stock abschneiden können, dachte er. Hätte überhaupt nicht dieser Baum sein müssen. Wer zum Teufel hätte den Unterschied schon merken sollen?
    Aber dann dachte er: Mr. World hätte den Unterschied gemerkt.
    Er trug die Leiter zurück zum Farmhaus. Aus den Augenwinkeln heraus glaubte er eine Bewegung bemerkt zu haben. Er blickte durchs Fenster in einen dunklen Raum voller kaputter Möbel hinein, einen Raum, wo der Putz von den Wänden bröckelte, und einen Moment lang, wie in einer Art Tagtraum, war ihm, als sähe er drei Frauen in dem dunklen Salon sitzen.
    Eine davon strickte. Die nächste schaute geradewegs zu ihm hin. Die dritte schien zu schlafen. Die Frau, die ihn anstarrte, setzte ein Lächeln auf, ein überaus breites Lächeln, das ihr Gesicht in Längsrichtung zu zerschneiden schien, ein Lächeln, das

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