American Gods
mich draußen auf dem Eis lassen sollen«, sagte Shadow. »Sie hätten mich im See lassen sollen. Ich habe den Kofferraum der Rostlaube geöffnet. Bisher ist Alison noch drin festgefroren. Aber das Eis wird schmelzen, ihre Leiche wird nach oben treiben. Und dann wird man auf den Grund tauchen und sehen, was man dort noch so alles finden kann. Ihre ganze Ansammlung von Kindern. Wahrscheinlich sind einige der Leichen noch ganz gut erhalten.«
Hinzelmann bückte sich und ergriff das Schüreisen. Er gab nicht mehr vor, damit im Feuer rühren zu wollen; er hielt es wie ein Schwert, oder auch einen Taktstock, und wedelte mit der orangeweiß glühenden Spitze in der Luft. Rauch stieg von ihr auf. Shadow wurde sich sehr eindringlich der Tatsache bewusst, dass er so gut wie nackt war; zudem war er immer noch erschöpft und schwerfällig, weit davon entfernt, sich verteidigen zu können.
»Sie wollen mich töten?«, sagte Shadow. »Nur zu. Tun Sie’s. Ich bin sowieso ein toter Mann. Ich weiß, dass Ihnen diese Stadt gehört – es ist Ihre kleine Welt. Aber wenn Sie glauben, dass niemand nach mir suchen wird, leben Sie in einer Traumwelt. Es ist vorbei, Hinzelmann. So oder so, das Spiel ist aus.«
Hinzelmann stemmte sich hoch und benützte das Schüreisen als Gehstock. Dort, wo er die rot glühende Spitze aufsetzte, versengte er damit den Teppich. Er sah Shadow an. Die Tränen standen ihm in den blassblauen Augen. »Ich liebe diese Stadt«, sagte er. »Es gefällt mir, ein verschrobener alter Mann zu sein, meine Geschichten zu erzählen, Tessie zu fahren und eisfischen zu gehen. Wissen Sie noch, was ich Ihnen gesagt habe? Was zählt, ist nicht der Fisch, den man am Abend nach Hause bringt. Was zählt, ist der Seelenfrieden.«
Er schob die Spitze des Schüreisens in Shadows Richtung. Shadow konnte dessen Hitze aus geringer Entfernung spüren.
»Ich könnte Sie töten«, sagte Hinzelmann. »Kein Problem. Es wäre nicht das erste Mal. Sie sind nämlich nicht der Erste, der mir draufgekommen ist. Chad Mulligans Vater, der hat es auch rausgekriegt. Ich hab ihn beseitigt, so wie ich auch Sie beseitigen kann.«
»Mag sein«, sagte Shadow. »Aber wie lange noch, Hinzelmann? Ein Jahr? Ein Jahrzehnt? Heute haben sie Computer, Hinzelmann. Und blöd sind sie auch nicht. Sie sind in der Lage, bestimmte Muster zu erkennen. Früher oder später werden sie kommen und Fragen stellen, wenn hier jedes Jahr ein Kind verschwindet. Wie sie auch nach mir suchen werden. Sagen Sie – wie alt sind Sie eigentlich?« Er spannte die Finger um ein Sofakissen und machte sich bereit, sich damit den Kopf zu schützen. Einen ersten Schlag würde er auf diese Weise abwehren können.
Hinzelmann machte ein ausdrucksloses Gesicht. »Sie haben mir ihre Kinder schon gegeben, noch bevor die Römer in den Schwarzwald kamen«, sagte er. »Ich war ein Gott, bevor ich zum Kobold wurde.«
»Vielleicht ist es an der Zeit weiterzuziehen«, sagte Shadow.
Hinzelmann starrte ihn an. Dann stieß er die Spitze des Schüreisens wieder in die Glut. »Das ist nicht so einfach. Wieso glauben Sie, dass ich die Stadt verlassen könnte, selbst wenn ich wollte, Shadow? Ich bin mit dieser Stadt verwachsen. Wollen Sie mich vertreiben, Shadow? Sind Sie etwa Ihrerseits bereit, mich zu töten? Damit ich gehen kann?«
Shadow blickte zu Boden. Auf dem Teppich waren immer noch dort, wo die Schüreisenspitze ihn berührt hatte, Funken zu sehen. Hinzelmann, der Shadows Blick gefolgt war, trat auf die Glut und drückte sie mit dem Fuß aus. Vor Shadows innerem Auge erschienen, ohne dass er sie gerufen hätte, Kinder, mehr als hundert, deren Haare sich wie Seetang langsam um ihre Gesichter schlangen. Der Ausdruck, mit dem ihre blinden Augen auf ihn gerichtet waren, war vorwurfsvoll.
Er wusste, dass er sie hängen ließ. Er wusste nur nicht, was er sonst tun sollte.
»Ich kann Sie nicht töten«, sagte er. »Sie haben mir das Leben gerettet.«
Er schüttelte den Kopf. Er fühlte sich so beschissen, wie man sich nur fühlen kann. Gar nicht mehr wie ein Held oder Detektiv – nur noch wie ein beschissener Verräter, der mit strengem Finger in die Dunkelheit wedelt, bevor er ihr den Rücken zukehrt.
»Wollen Sie ein Geheimnis erfahren?«, fragte Hinzelmann ihn.
»Nur zu«, sagte Shadow schweren Herzens. Er hatte eigentlich genug von Geheimnissen.
»Dann passen Sie auf.«
Wo eben noch Hinzelmann gestanden hatte, stand auf einmal ein kleiner Junge, der nicht älter als fünf Jahre war.
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