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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Sein dunkelbraunes Haar war lang gewachsen. Er war, abgesehen von einem abgewetzten Lederriemen, den er um den Hals trug, völlig nackt. Er war von zwei Schwertern durchbohrt, das eine ging durch die Brust, das andere begann an der Schulter und trat unterhalb des Brustkorbs wieder aus. Unaufhörlich strömte das Blut aus den Wunden und floss am Körper des Jungen hinunter zu Boden, wo es Lachen bildete. Die Schwerter sahen unvorstellbar alt aus.
    Der kleine Junge starrte Shadow mit Augen an, in denen nichts als Schmerz lag.
    Und Shadow dachte bei sich: Natürlich. So macht man sich einen Stammesgott, eine Methode, die so gut wie jede andere ist. Man musste es ihm nicht erklären. Er wusste es.
    Man nimmt sich ein Baby und zieht es im Dunkeln auf, lässt es niemanden sehen, niemanden berühren; man füttert es gut, während die Jahre vergehen, füttert es reichlicher als alle anderen Kinder des Dorfes, und dann, im Winter des fünften Jahres, wenn die Nacht am längsten ist, zerrt man das verängstigte Kind aus seiner Hütte in den Kreis der rituellen Feuer hinein, und man durchbohrt es mit Klingen aus Eisen und Bronze. Dann räuchert man den kleinen Körper über einem Holzkohlenfeuer, bis er richtig getrocknet ist, wickelt ihn in Pelze ein und trägt ihn mit sich von Lager zu Lager, tief im Schwarzwald, opfert ihm Tiere und Kinder, auf dass es dem Stamm Glück bringe. Wenn das Ding am Ende vor Alter auseinander fällt, steckt man die zerbrechlichen Knochen in einen Kasten und betet den Kasten an; bis eines Tages die Knochen verstreut und vergessen sind und die Stämme, die den Kindgott im Kasten angebetet haben, gar nicht mehr existieren; und dann wird sich kaum noch jemand an den Kindgott, den Glücksbringer des Dorfes, erinnern, es sei denn, als ein – guter oder böser – Geist oder eben: ein Kobold.
    Shadow fragte sich, was für ein Mensch da vor 150 Jahren über den Atlantik und ins nördliche Wisconsin gekommen sein mochte, in dessen Erinnerung Hinzelmann immer noch gelebt hatte: ein Holzfäller vielleicht oder ein Kartograph.
    Und dann war das blutüberströmte Kind wieder verschwunden, und auch das Blut, und nur ein alter Mann mit weißem Haarflaum und koboldigem Lächeln stand da, die Pulloverärmel noch klatschnass, weil er Shadow in das lebensrettende Bad getaucht hatte.
    »Hinzelmann?« Die Stimme kam vom Eingang der Hütte her.
    Hinzelmann drehte sich um. Auch Shadow drehte sich um.
    »Ich wollte nur berichten«, sagte Chad Mulligan mit angespannter Stimme, »dass die Rostlaube durchs Eis gegangen ist. Als ich über die Brücke gefahren bin, habe ich gesehen, dass sie verschwunden war, und mir gedacht, ich komme mal kurz vorbei und mache Meldung, für den Fall, dass du es nicht mitgekriegt hast.«
    Er hatte die Pistole in der Hand. Sie war auf den Fußboden gerichtet.
    »He, Chad«, sagte Shadow.
    »Hallo, mein Freund«, sagte Chad Mulligan. »Ich habe eigentlich eine Mitteilung bekommen, in der es hieß, dass Sie in der Haft gestorben sind. Herzinfarkt.«
    »Was sagt man dazu?«, sagte Shadow. »Sieht so aus, als müsste ich ununterbrochen sterben.«
    »Er ist urplötzlich hierher gekommen, Chad«, sagte Hinzelmann. »Er hat mich bedroht.«
    »Nein«, sagte Chad Mulligan. »Hat er nicht. Ich bin seit zehn Minuten hier, Hinzelmann. Hab alles gehört, was du gesagt hast. Auch das über meinen alten Herrn. Das über den See.« Er kam weiter ins Zimmer herein. Die Pistole ließ er weiterhin nach unten gerichtet. »Herrgott, Hinzelmann. Man kann gar nicht durch diese Stadt fahren, ohne den verdammten See zu sehen. Er ist im Mittelpunkt von allem. Was zum Teufel soll ich jetzt tun?«
    »Du musst ihn verhaften. Er hat gesagt, er will mich umbringen«, sagte Hinzelmann, ein verängstigter alter Mann in einer staubigen Hütte. »Chad, ich bin so froh, dass du da bist.«
    »Nein«, sagte Chad Mulligan. »Ganz bestimmt nicht.«
    Hinzelmann seufzte. Wie resigniert bückte er sich und zog das Schüreisen aus dem Feuer. Die Spitze glühte hellorange.
    »Leg das wieder hin, Hinzelmann. Leg es langsam zurück, halt die Hände hoch, damit ich sie sehen kann, und dreh dich zur Wand um.«
    Ein Ausdruck blanker Furcht lag auf dem Gesicht des Alten, und Shadow hätte beinahe Mitleid mit ihm gehabt, aber dann erinnerte er sich an die gefrorenen Tränen auf Alison McGoverns Wangen. Hinzelmann rührte sich nicht. Er legte das Schüreisen nicht weg. Er drehte sich nicht zur Wand um. Shadow wollte gerade nach ihm greifen, ihm

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