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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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»Hab ich dir je von meinem Bruder erzählt?«
    »Bjelbog?« Shadow trat in die Mitte des aschefleckigen Teppichs. Er ging auf die Knie. »Du hast erzählt, dass du ihn lange nicht gesehen hast.«
    »Stimmt«, sagte der alte Mann und hob dabei den Hammer. »Es ist ein langer Winter gewesen, mein Junge. Ein sehr langer Winter. Aber jetzt geht er zu Ende.« Bedächtig schüttelte er den Kopf, als würde eine Erinnerung in ihm wach. »Mach die Augen zu.«
    Shadow schloss die Augen, hob den Kopf und wartete.
    Der Kopf des Vorschlaghammers war kalt, eiskalt, berührte seine Stirn aber nur so sanft wie ein Kuss.
    » Rumms! Da«, sagte Tschernibog. »Das war’s.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen, das Shadow völlig unvertraut war, ein lockeres, entspanntes Lächeln, wie Sonnenschein an einem Sommertag. Der Alte ging wieder zum Koffer, legte den Hammer hinein, schloss den Koffer und schob ihn unter die Anrichte.
    »Tschernibog?«, sagte Shadow. Und dann: »Bist du überhaupt Tschernibog?«
    »Ja. Heute noch«, sagte der Alte. »Ab morgen wird’s dann nur noch Bjelbog sein. Aber für heute gilt noch Tschernibog.«
    »Warum dann das Ganze eben? Warum hast du mich nicht getötet, solange du konntest?«
    Der alte Mann zog eine filterlose Zigarette aus einer Packung, die er in der Tasche stecken hatte. Er nahm eine große Streichholzschachtel vom Kaminsims und gab sich Feuer. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein. »Weil«, sagte er nach einer ganzen Weile, »es zwar auf der einen Seite Blut gibt. Auf der anderen aber auch Dankbarkeit. Es war wahrhaftig ein langer, langer Winter.«
    Shadow richtete sich auf und klopfte sich die Staubflocken von den Knien.
    »Danke«, sagte er.
    »Bitte«, sagte der Alte. »Wenn du mal wieder Dame spielen willst, weißt du ja, wo du mich findest. Das nächste Mal werde aber ich die weißen Steine nehmen.«
    »Danke. Mach ich vielleicht irgendwann«, sagte Shadow. »Aber erst mal nicht.« Er sah in die blitzenden Augen des Alten und fragte sich, ob die schon immer derart kornblumenblau gewesen waren. Sie schüttelten sich die Hand, aber keiner von beiden sagte Auf Wiedersehen.
    Er drückte Sarja Utrennjaja zum Abschied einen Kuss auf die Wange, Sarja Wetschernjaja bekam einen Handkuss, und dann verließ Shadow diesen Ort, indem er immer zwei Treppenstufen auf einmal nahm.

nachtrag
     
     
    Reykjavik, die Hauptstadt Islands, ist eine seltsame Stadt, selbst für jemanden, der Erfahrung mit seltsamen Städten hat. Es ist ein vulkanischer Ort – die Stadt bezieht ihre Wärme aus den Tiefen der Erde.
    Es gibt zwar Touristen, aber nicht so viele, wie man vielleicht erwarten würde, nicht einmal Anfang Juli sind sie zahlreich. Die Sonne schien, wie sie es seit Wochen schon getan hatte: Nur am frühen Morgen unterbrach sie ihr Tagwerk für ein, zwei Stunden. Zwischen zwei und drei Uhr gab es eine Art Dämmerung, und dann begann der Tag von neuem.
    Der hoch gewachsene Tourist hatte an diesem Morgen weite Teile von Reykjavik abgelaufen, hatte den Unterhaltungen der Leute gelauscht, deren Sprache sich während der letzten tausend Jahre wenig verändert hatte. Die Einheimischen hier konnten die alten Sagen genauso problemlos lesen wie ihre Tageszeitung. Diese Insel vermittelte ein Gefühl von Kontinuität, das Shadow beängstigend, aber auch hochgradig beruhigend fand. Er war ausgesprochen müde: Wegen des immerwährenden Tageslichts war an Schlaf kaum zu denken, und so hatte er während langer nachtloser Nächte in seinem Hotelzimmer gesessen und abwechselnd in einem Reiseführer und in dem Roman Bleak House gelesen, den er sich vor ein paar Wochen im Flughafen gekauft hatte, in welchem, wusste er freilich nicht mehr. Manchmal hatte er einfach nur aus dem Fenster gestarrt.
    Bis endlich die Uhr ebenso wie die Sonne den Morgen verkündet hatte.
    In einem der vielen Süßwarengeschäfte kaufte er sich einen Schokoriegel und wanderte dann den Bürgersteig entlang, wobei er sich gelegentlich an die vulkanische Natur Islands erinnert fand: Kaum bog er um eine Ecke, bemerkte er jedesmal für einen Moment den Schwefelgeruch, der in der Luft lag. Der Geruch ließ ihn allerdings weniger an den Hades denken als an faule Eier.
    Viele der Frauen, die ihm begegneten, waren sehr schön: schlank und blass. Die Sorte Frau, die Wednesday geschätzt hatte. Shadow fragte sich, was Wednesday an seiner, Shadows, Mutter reizvoll gefunden hatte, die zwar schön, jedoch weder dünn noch blass gewesen war.
    Shadow

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