Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
weiter gehen, bis die Wärmer und die Süßigkeiten aufgebraucht waren, um sich dann hinzusetzen und nie wieder aufzustehen.
    Er stieß auf einen größeren Bach, die Art von Gewässer, die hierzulande als creek bezeichnet, von den Einheimischen aber crick ausgesprochen wurde, und beschloss, ihm zu folgen. Bäche münden in Flüsse, und Flüsse enden alle unweigerlich im Mississippi; wenn er also nur lange genug marschierte oder ein Boot klaute oder sich ein Floß baute, würde er am Ende in New Orleans landen, wo es warm war, eine Aussicht, die zwar tröstlich, aber irgendwie auch unrealistisch erschien.
    Es kamen keine weiteren Hubschrauber. Er hatte das Gefühl, dass diejenigen, die über ihn hinweggeflogen waren, die Bescherung im Zug beseitigt, nicht aber Jagd auf ihn gemacht hatten, sonst wären sie vermutlich zurückgekehrt, es hätte Spürhunde gegeben und Sirenen und was sonst noch alles zu einer anständigen Verfolgung gehörte. Stattdessen war da nichts.
    Also, was wollte er? Nicht ergriffen werden. Nicht für den Tod der Männer im Zug verantwortlich gemacht werden. »Ich war es nicht«, hörte er sich sagen, »es war meine tote Frau.« Den Gesichtsausdruck der Justizbeamten daraufhin konnte er sich gut ausmalen. Danach würde man, während er auf den Stuhl geführt wurde, darüber diskutieren können, ob er verrückt sei oder nicht …
    Er überlegte, ob in Wisconsin die Todesstrafe galt. Die nächste Frage war, ob das irgendetwas ausmachte. Er wollte verstehen, was vorging – und herausfinden, wohin das alles führen mochte. Schließlich dämmerte ihm – und ein etwas klägliches Grinsen schlich sich dabei auf sein Gesicht –, dass er sich vor allem wünschte, alles möge wieder normal sein. Er wollte nie im Gefängnis gewesen sein, wollte, dass Laura noch am Leben war, wollte, dass das alles hier nie geschehen war.
    »Ich fürchte, das steht eigentlich nicht zur Debatte, mein Junge«, dachte er bei sich, Wednesdays barsche Stimme nachahmend, und nickte zustimmend. Keine Debatte. Du hast die Brücken hinter dir abgebrochen. Also geh einfach weiter. Sitz deine Zeit ab …
    In einiger Entfernung trommelte ein Specht gegen einen morschen Baum.
    Shadow wurde sich bewusst, dass er unter Beobachtung stand: Eine Hand voll roter Kardinalvögel starrte ihn von einem dürren Holunderbusch aus an, dann fuhren sie fort, an den Sträuchern schwarzer Holunderbeeren zu picken. Sie sahen aus wie die Illustrationen aus seinem »Singvögel-in-Nordamerika«-Kalender. Noch lange konnte er auf seinem Weg entlang des Baches das Spielhallen-Zwitschern, Schlagen und Juchzen der Vögel hören.
    Ein totes Reh lag auf einer Lichtung im Schatten eines Hügels. Ein schwarzer Vogel von der Größe eines kleinen Hundes hackte mit seinem großen gebogenen Schnabel in dessen Flanke und riss und zerrte Brocken roten Fleischs aus dem Kadaver. Die Augen des Tieres waren nicht mehr da, aber der restliche Kopf war noch unberührt; auf dem Hinterteil waren weiße Kitztupfer zu sehen. Shadow fragte sich, wie es wohl zu Tode gekommen war.
    Der schwarze Vogel legte den Kopf zur Seite und sagte dann mit einer Stimme, die so klang, als würde jemand Steine aneinander schlagen: »Du Schattenmann.«
    »Ich bin Shadow«, sagte Shadow. Der Vogel hüpfte auf den Rücken des Rehs, hob den Kopf und sträubte dabei den Kamm und die Nackenfedern. Er war riesengroß, und die Augen wirkten wie schwarze Perlen. Es lag etwas Einschüchterndes an einem Vogel dieser Größe, vor allem aus solch unmittelbarer Nähe.
    »Sagt, er trifft dich in Kay-ro«, tockte der Rabe. Shadow überlegte, um welchen von Odins Raben es sich wohl handeln mochte, um Hugin oder um Munin, Gedächtnis oder Gedanke.
    »Kay-ro?«, sagte er.
    »In Ägypten.«
    »Wie soll ich denn nach Ägypten kommen?«
    »Mississippi folgen. Nach Süden. Schakal finden.«
    »Hör mal«, sagte Shadow, »versteh mich bitte nicht falsch, ich bin nicht – Jesses, ich meine …« Er hielt inne. Formierte sich neu. Ihm war kalt, er stand im Wald, er redete mit einem schwarzen Vogel, der gerade dabei war, Bambi zum Frühstück zu verspeisen. »Okay. Also, ich will keine Rätsel gestellt bekommen.«
    »Rätsel«, bestätigte der Vogel hilfreich.
    »Ich will Erklärungen. Schakal in Kay-ro. Das hilft mir nicht weiter. Das kommt mir wie ein Zitat aus einem schlechten Spionagethriller vor.«
    »Jackal – Schakal. Freund. Tock. Kay-ro.«
    »Das hast du bereits gesagt. Ein bisschen mehr Information dürfte schon

Weitere Kostenlose Bücher