Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Kontemplation an dem See in Michigan wurde von einem Waldhüter gestört, der ihn in barschem Ton darauf hinwies, dass er sich unerlaubt auf Privatgelände aufhalte. Er konnte den jungen Mann beschwichtigen, sie tranken Kaffee mit einem Schuss Old Grand-Dad, später am Abend noch ein paar Gläser Whisky, plauderten und verabredeten sich für den nächsten Tag zum Angeln.
Über den Waldhüter schreibt Steinbeck, er habe eine Frau, die unbedingt den Idealbildern in Hochglanzmagazinen wie Charm und Glamour gleichen wolle; sie hasse den »Provinzmief« und werde diesen Naturburschen sicher irgendwann mit sanfter Gewalt in die Stadt zwingen. »Sie wusste genau, was sie wollte, und er wusste es nicht, aber was er wollte, würde ihn sein Leben lang quälen.«
Am nächsten Morgen kam der Waldhüter wieder, Steinbeck und er gingen angeln, fingen aber keinen einzigen Fisch.
Wir landen an diesem Abend in einer großen Familienpension, einer hölzernen Villa im Queen-Anne-Stil, vornehm graublau gestrichen, voller Türmchen und Gauben und umgeben von einem großen, altmodischen, schattenreichen Garten. Die Stadt heißt Kalamazoo, vielleicht nach einem Wort für »brodelndes Wasser« in der Sprache der Potawatomi, die um 1820 noch in der Gegend lebten.
Je weiter man nach Westen fährt, desto kürzer scheint die Geschichte des Landes zu werden, so kommt es zumindest Europäern vor. Als Alexis de Tocqueville und Gustave de Beaumont im Sommer 1831 durch dieses Gebiet reisten, war es noch ein einziger riesiger Wald, in dem es nur hier und da ein frisch gerodetes Stück Land gab. Detroit war ein »hübsches amerikanisches Dorf« mit zweieinhalbtausend Einwohnern, Pontiac ein aus zwanzig Häusern bestehender Weiler, Chicago ein Handelsposten, Washington glich »einer trockenen, von der Sonne versengten Ebene, auf der zwei oder drei pompöse Bauwerke stehen, dazu die fünf oder sechs Dörfer, die zusammen die Stadt bilden«. Sie speisten mit John Quincy Adams, begegneten auf einem Flussdampfer Sam Houston, der fünf Jahre später die Unabhängigkeit der Republik Texas von Mexiko erkämpfen sollte, und nur aus Zeitgründen verpassten sie in Virginia eine Begegnung mit dem achtzigjährigen James Madison, einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten.
Ich selbst hatte während einer Reise durch Texas, die nun schon Jahre zurückliegt, einen Eindruck von dieser seltsamen Kürze der Geschichte bekommen. Ein alter Farmer hatte mir erzählt, dass seine Mutter, Kind von Pionieren, während ihrer Jugend noch in einem dugout gehaust hatte, einer jener künstlichen Wohnhöhlen, wie sie auch schon in Beschreibungen Nieuw Amsterdams aus dem 17. Jahrhundert vorkommen. Ja, sie lebte noch, inzwischen fast hundert Jahre alt, und sie wohnte bei ihm. Ich sah eine kleine Frau mit runzliger Haut, die für uns in einem großen roten Standmixer Milch und Speiseeis verquirlte. Die ganze Geschichte des Landes in einem Milchshake.
Eine ähnliche Empfindung hat man in dem Haus, in dem wir jetzt zu Gast sind. Es wurde 1886 errichtet, ist also nach europäischen Maßstäben nicht besonders alt, aber es steht für fast die gesamte Geschichte des Ortes, seit den Anfängen. Der Verleger der Kalamazoo Gazette hat es bauen lassen. Von einer großzügigen Eingangshalle mit gewundener Treppe gelangt man in ein knappes Dutzend Räume, darunter ein Salon, ein Esszimmer, ein Raucherzimmer, ein Arbeitszimmer plus Bibliothek und im Obergeschoss mindestens fünf Schlafräume. Als es vor zwanzig Jahren fachmännisch restauriert wurde, stellte man fest, dass für fast jedes Zimmer eine andere Holzart verwendet worden war: Kiefer, Buche, Eiche, Fichte, Esche, Kirsche.
»Michigan war damals das Zentrum der amerikanischen Holzindustrie, das ganze Staatsgebiet war bewaldet«, erzählt Chris, der heutige Eigentümer, während er am Herd mit Töpfen jongliert. »Man merkt immer noch, wie solide dieses Haus gebaut worden ist.« Es ist jetzt eine Bed-and-breakfast- Unterkunft, und die große Küche dient auch als Treffpunkt für die Gäste.
Das Haus ist für Chris zur Lebensaufgabe geworden, zusammen mit seiner Frau Dana hütet er jedes Schiebefenster und jede Dachgaube wie ein Kunstwerk.
Er holt ein Buch aus der Bibliothek, A Pictorial History of Kalamazoo , fast eine Art Familienalbum. Wir machen einen Sprung in das vergangene Jahrhundert. Der Eisenwarenladen der Familie Kersen an einem sommerlichen Tag des Jahres 1896. Die Main Street um 1900; man sieht die Pferdebahn,
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