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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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links und rechts lange Reihen von Läden, die Markisen wegen der Sonne weit heruntergelassen, ein paar Kutschen und Fuhrwerke, Gehwege voller Spaziergänger. Die Hufschmiede von Arend Bos im Jahr 1908, als die Einwohner der Stadt sich dort noch regelmäßig begegneten. Der strenge Winter von 1918, in dem meterhoher Schnee sogar den Zugverkehr lahmlegte. Der Saloon von Arnold van Loghem 1915 und die Brotfabrik von Jan Brink 1920. Helen van der Kolk im Jahr 1923 an der Stadtgrenze – Speed limit 15 miles per hour. Thank you! Nelly Grace und ihr Vater, die 1930 zusammen Radio hören. » Bomber Queen « Lorraine den Boer, die 1943 eine aus Spenden der Stadtbevölkerung finanzierte B-17 taufen darf. Wieder die Hauptgeschäftsstraße, Michigan Avenue, Ecke North Burdick Street, jetzt sind Hochhäuser und große Schaufenster zu sehen, davor Passanten mit Einkäufen, lebhafter Autoverkehr.
    Ich muss daran denken, dass ich vor Jahren schon einmal durch diese Gegend gefahren bin, durch Kleinstädte wie Holland, Zeeland, Overisel, Borculo und Vriesland. Damals besuchte ich Friedhöfe mit lauter niederländischen Namen auf den Grabsteinen, in Grand Rapids kam ich an der riesigen Van Andel Arena vorbei, in der Grand Rapids Press las ich niederländische Namen von Pfarrern, orthodox-kalvinistischen Dickköpfen, die sich immer noch typisch niederländische Pfaffenwortgefechte lieferten, als sei 1950 die Zeit stehen geblieben.
    Am Morgen liegt die neue Kalamazoo Gazette in der Küche unserer Pension. Die Kalamazoo Singers haben einen neuen Chorleiter, am kommenden Dienstag wird wieder ein im Krieg gefallener Sohn der Stadt beerdigt – Anthony Matteoni, der eine junge Frau und ein noch ungeborenes Kind hinterlässt –, und auf der Leserbriefseite wird über den Nutzen von Einzelhandelsketten diskutiert: »Große Konzerne wie Walmart und Meijer verdrängen mom-and-pop-stores .«
    Beim Frühstück entwickelt sich ein lebhaftes Gespräch über das Phänomen dating , ein typisch nordamerikanisches Ritual, das es so nirgendwo sonst auf der Welt gab. Vielleicht ist es entstanden, weil die Sitten in den Heimatländern der Immigranten sehr unterschiedlich waren und deshalb neue, aber auch klare Spielregeln gebraucht wurden.
    Tocqueville und Beaumont waren zur Zeit ihrer Amerikareise gerade einmal 26 und 29 Jahre alt, und in ihren Briefen finden sich zwischen all den tiefgründigen Gedanken über die Vereinigten Staaten auch zahllose Bemerkungen über die blauen Augen und anderen Reize der jungen Damen, denen sie begegneten. Sie staunten über die Freiheiten und die Selbständigkeit dieser Amerikanerinnen wie auch über die eigenartige Verbindung von auffälliger Prüderie mit einer Neigung zum Kokettieren. All das verwirrte die jungen französischen Reisenden. »Wir leben wie die Mönche«, klagt Tocqueville. »Wie gute Mönche wohlgemerkt.«
    Ich frage, ob es dieses dating -Ritual noch gibt. Der britische Anthropologe Geoffrey Gorer, der die Amerikaner wie ein Indianervolk beschrieben hat, widmet dem für ihn exotischen Brauch viele Seiten. Ein gutes date habe einerseits Ähnlichkeit mit einem zeremoniellen Tanz, andererseits mit einem Wettkampf, einer Schachpartie, flüsternd kommentiert von aufmerksamen Zuschauern. Es sei eine Kombination aus Show, Schmeichelei, scherzhaftem Geplauder und Flirt, mit vielen ungeschriebenen Spielregeln. Das Zusammensein habe überwiegend im öffentlichen Raum stattzufinden, fast immer werde dem Mädchen irgendetwas spendiert; was schließlich auf dem Heimweg geschehe, hänge von der Verhandlungsdynamik der beiden Beteiligten ab, sei aber nicht die Hauptsache: Ein easy lay sei kein good date und umgekehrt.
    Gorer beschrieb das dating , wie es noch in den fünfziger Jahren üblich war und wie wir Europäer es aus Filmen und Romanen kennen. Entspricht dieses Bild noch der Realität? Chris und Dana schütteln den Kopf, nein, das sei vor ihrer Zeit gewesen. Zufällig ist eine der Anwesenden, Carol, als Sozialpsychologin auf solche Fragen spezialisiert. Wenn sie ihren Studenten von Ritualen wie dem date erzähle, machten sie große Augen. Sie unternähmen mehr in Gruppen, gingen nicht mehr so schnell feste Bindungen ein, hätten lockere Beziehungen von eher kurzer Dauer.
    Carol findet das Phänomen kiss viel interessanter als das überholte dating . »Wenn ein Anthropologe vom Mars hier landen würde, dann würde er bestimmt den Kuss erforschen, auch eine äußerst eigenartige menschliche Handlung. Und welche

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