Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Unterschiede man da erkennt! Die Pfingstler lieben den full body hug , den Methodisten wäre so etwas sehr unangenehm, sie geben sich nur die Hand. Auch in New Hampshire und Vermont hat man für kissing und hugging nichts übrig, man hält Abstand, aber Kalifornien ist das andere Extrem!« Sie bricht in schallendes Gelächter aus.
Der nächste Morgen. Zeit für eine kleine Stadtrundfahrt. Zunächst sehen wir den glänzenden Ring, der das Zentrum umgibt, die zwischen 1900 und 1940 gebauten Straßen. Einer der wichtigsten Bauherren war ein gewisser Henry van der Horst, ein verwaister junger Niederländer, der 1891 nach Kalamazoo kam und hier reich wurde. Überall stehen noch seine traditionellen Holzhäuser mit Erkern, Dachgauben und den obligatorischen großen Veranden, auf denen die Bewohner abends gemütlich beisammensitzen. Kinder spielen in der warmen Herbstsonne mit einer Schubkarre voller Blätter, ihr Juchzen hört man selbst einen halben Block entfernt. Dies ist noch die Welt des Norman Rockwell, der während des Zweiten Weltkriegs und danach vor allem mit seinen Titelillustrationen für die Saturday Evening Post berühmt wurde. Woche für Woche stellte er die Vereinigten Staaten als kleinstädtisches Utopia dar, das nur von freundlichen Spaziergängern, netten Nachbarn, rechtschaffenen Ladenbesitzern und einer harmlos schelmischen Jugend bewohnt war, eine Welt, in der sich nie etwas veränderte.
Wir fahren über den großen Platz, an dem eine riesige Kirche aus Beton-Neogotik von der First Presbytarian Church und noch ein paar andere Gotteshäuser stehen – Pfarrer Matt Loney wird am nächsten Tag über das Thema » When money buys happiness« predigen –, und dann suchen wir die Geschäftsstraße von den Fotos, die wir vorgestern Abend gesehen haben.
Der abgebildete Straßenabschnitt lässt sich nach einem halben Jahrhundert nur schwer wiederfinden. Ein Giebel und wenige andere Details helfen bei der Orientierung, ansonsten hat sich in der Michigan Avenue, Ecke North Burdick Street alles bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die meisten alten Gebäude in der North Burdick Street sind abgerissen worden, an ihrer Stelle stehen ein riesiges Radisson-Hotel-Hochhaus und ein Block mit Restaurants, Cafés und Bars. Die Straße ist jetzt autofrei, man hat Bäume gepflanzt, das Ganze sieht aus wie jede andere Konsummeile in sämtlichen Suburbs von Spokane bis New Orleans.
Steinbeck hatte irritiert über jenes Motel berichtet, in dem so gut wie alles aus Plastik bestand oder in Plastik eingepackt war, und hier haben wir nun ein ganzes Stadtzentrum, das aussieht wie in Plastik verpackt. Früher hatten die Giebel, Dachgesimse und Ornamente eine Bedeutung, sie sagten etwas aus, erzählten die Geschichte früherer Generationen, erweckten ein Gefühl der Verbundenheit über Zeiten hinweg. Jetzt sind sie zu sinnlosen Verzierungen degradiert, zu nichtssagenden Niedlichkeiten. Von dem einstigen »Rhythmus« der Straße und der Häuserflucht, der streetscape , hat der glänzende Radisson-Koloss nichts übrig gelassen.
Historische Gebäude sind nicht nur Zeugnisse unserer Vergangenheit, sondern unserer Kultur insgesamt, des größeren Zusammenhangs, in den unser Leben gehört. Das gilt sogar für die relativ jungen amerikanischen Städte. Auch in Kalamazoo erschöpfte sich die Bedeutung der vielen schönen und eigenwilligen Fassaden aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht im Äußerlichen. Die Erbauer und Architekten orientierten sich, ob bewusst oder nicht, auch an einer Idealvorstellung von der Stadt als eines Ganzen, an der Idee einer Form, in der das Gemeinwesen – ganz im Sinn der klassischen Civitas – auf Dauer gedeihen konnte. In den Städten, die Steinbeck besuchte, ließen die Bauten und Straßenzüge das noch erkennen; die wenigen Überreste heute lassen es kaum erahnen.
In Kalamazoo tut man, was man kann, um die Civitas zu erhalten. Die alteingesessenen reichen Familien der Stadt haben zusammen eine bemerkenswerte Initiative gestartet, die den Niedergang aufhalten soll: Für jeden, der vom Kindergarten an eine öffentliche Schule in Kalamazoo besucht und dort seinen Highschoolabschluss gemacht hat, zahlt ein von den Stiftern finanzierter Fonds die Studiengebühren an jedem College und jeder Universität im Staat Michigan; wer mindestens vier Jahre lang bis zum Abschluss Schüler einer öffentlichen Highschool in Kalamazoo war, bekommt immerhin noch einen Zuschuss von 65 Prozent. Kalamazoo Promise,
Weitere Kostenlose Bücher