Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
gehören keine Ehebrecher, Hurenböcke, Diebe, Mörder, Säufer und andere interessante Sünder. »Wenn sie doch an Seinem Tisch erscheinen, wird ihre Strafe im Jenseits nur noch härter sein.«
Die Kinder rutschen ungeduldig auf ihren Stühlen hin und her, auch das hat sich nicht geändert. Hinterher steckt mir die Frau des Küsters mit aufmunterndem Nicken noch ein Wilhelmina-Pfefferminz zu.
Wo bin ich eigentlich?
2
Am Nachmittag fahren wir weiter nach Chicago. Überall liegen wieder totgefahrene Tiere an den Straßenrändern, heute sogar ein Reh. Man könnte in dieser Gegend jeden Abend eine ganze Mahlzeit vom Highway auflesen, und ich habe von Leuten gehört, die das tatsächlich tun. Das Verkehrsverhalten unserer Mitmenschen war bisher außerordentlich entspannt, vor allem auf Landstraßen und innerhalb von Ortschaften. An Tankstellen und auf den Parkplätzen von Restaurants und Motels wird ganz gemütlich manövriert; auch furchterregende Trucks und martialische Allrad-Geländewagen gleiten leise und langsam auf ihre Plätze, wie träge Kühe zum Stall trotten. Die meisten Fahrer sind höflich; Schneiden und Drängeln kommen selten vor. Wer überholt wird, nimmt den Fuß vom Gas; am Straßenrand stehenden Wagen weicht man aus, Fußgänger lässt man die Straße überqueren. Die amerikanischen Verkehrsregeln fördern ein solches Verhalten: An vielen Kreuzungen gilt die All-Way-Stop -Regel, und haltende Schulbusse dürfen nicht überholt werden. Vielleicht spielen auch die Dimensionen des Landes eine Rolle, meistens ist genug Platz für alle da.
Doch auf dem Interstate in der Nähe von Chicago ist es plötzlich vorbei mit der Höflichkeit. Hier geht es ruppiger zu, man spürt schon die Energie der Metropole; wir sehen immer mehr Hochspannungsleitungen, Verkehrsknotenpunkte, S-Bahnen. Ein Containerzug gleitet neben uns her, mindestens eine Meile lang, mit vier Lokomotiven. Bei den Vorstädten geraten wir in eine Art Fleischwolf, so kommen wir uns jedenfalls vor angesichts der unerwartet auftauchenden Ausfahrten, des Gewirrs von Überführungen und einer Verkehrsmasse, die sich um keine Geschwindigkeitsbegrenzungen kümmert.
Und dann stehen auf einmal alle still. Es ist der Tag des alljährlichen Chicago-Marathons, der uns einen mindestens halbstündigen Stau beschert.
Eine Atempause, in der man sich innerlich auf die Stadt einstellen kann.
»Hog-Butcher for the World,
Tool-Maker, Stacker of Wheat,
Player with Railroads and the Nation’s Freight Handler;
Stormy, husky, brawling,
City of the Big Shoulders … «
Chicago ist nach New York und Los Angeles die drittgrößte Stadt des Landes. Keine andere ist so durch und durch amerikanisch. Der Dichter Carl Sandburg, Autor der zitierten Zeilen, war vernarrt in diese Stadt. Rudyard Kipling dagegen hoffte, Chicago nie wiederzusehen: »Es ist von Wilden bewohnt. Die Luft ist Morast.«
New York sei eine Weltstadt im eigentlichen Sinne, in mancher Hinsicht eher europäisch als amerikanisch, meinte John Gunther, Chicago dagegen sei überwältigend amerikanisch, man habe das Gefühl, dass »Amerika und der Mittlere Westen von allen Seiten darauf einschlagen«. Nun war Gunther nicht unbedingt objektiv, er war in Chicago aufgewachsen. Für ihn besaß Chicago von allen Städten, in denen er gewohnt hatte, die größte »Vitalität und Energie«:
»Der eiskalte Wind, der durch die von Schnee verstopften Boulevards heult; die sonnige Flanke des Lincoln Parks beim Yachthafen in heißen Sommern; das autohupenartige Tuten der Illinois-Central-Nahverkehrszüge; das ständige Hochziehen von Brücken, Brücken, Brücken; Löcher und Dellen und Berge und Erdrutsche und gähnende Abgründe in den Straßen; das durchdringende Pfeifen wütender Verkehrspolizisten; der phantastisch ruhige Lift des Palmolive Building, und die Autos, die sich gegenseitig vorwärts zu schieben scheinen wie in Massen wandernde Käfer; die gewaltigen, schweren Züge der North Shore, die wie eiserne Schlangen durch die bebenden hölzernen Bahnhöfe der Vorstädte fegen; der beißende Geruch von Tieren, der von den Schlachthöfen heranweht, wenn der Wind aus jener Richtung kommt, und die rote Glut der Stahlwalzwerke vor schwarzem Himmel – all das bleibt im Gedächtnis.«
Chicago – der Name ist die Verballhornung eines Algonkin-Wortes entweder für wilde Zwiebeln und wilden Knoblauch oder, wahrscheinlicher, für das Marschland, auf dem die Stadt entstand – wurde erst 1833 offiziell gegründet.
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