Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Im 18. Jahrhundert war die Ansiedlung nicht viel mehr als ein befestigter Handelsposten. Noch 1833 hatte es, so berichtet ein Reisender, nur ungefähr 350 Einwohner, die in Holzhäusern an drei schlammigen Straßen wohnten. Weniger als sechzig Jahre später lebten an diesem Ort 1 Million Menschen, heute sind es etwas mehr als 2,7 Millionen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts expandierte Chicago so schnell wie keine andere Stadt der Welt. Das lag vor allem an zwei Transportmitteln, die im Grunde die Erschließung des Kontinents und die amerikanische Erfolgsgeschichte erst möglich gemacht haben: Eisenbahn und Dampfschiff. Denn verkehrstechnisch erwies sich die Lage Chicagos als ideal.
Zwischen 1830 und 1880 veränderten sich die Vereinigten Staaten so grundlegend und in solchem Tempo, dass die Amerikaner selbst darüber staunten. Die Bevölkerung nahm um 400 Prozent zu – in Frankreich waren es 17 Prozent. Zwischen 1850 und 1880 steigerte sich die industrielle Produktion um 600 Prozent, dreimal so stark wie in Großbritannien.
Auch das Territorium der Vereinigten Staaten wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts ständig erweitert. 1803 kauften die Amerikaner dem napoleonischen Frankreich die Kolonie Louisiana ab, die nicht nur einen Teil des heutigen Bundesstaates mit diesem Namen, sondern auch das Gebiet der späteren Staaten Iowa, Missouri, Arkansas, South Dakota, Nebraska, Kansas und Oklahoma, den größten Teil von North Dakota, Montana, Wyoming und Colorado sowie einen kleinen Teil von New Mexico und Texas umfasste. 1819 erwarben die Vereinigten Staaten Florida von Spanien, nachdem sie schon Teile der Kolonie unter ihre Kontrolle gebracht hatten. In den Jahren 1835 und 1836 erhoben sich die amerikanischen Siedler in Texas gegen die mexikanische Herrschaft; ihre Armee, ab März 1836 unter dem Oberkommando von Sam Houston, konnte die Mexikaner besiegen, Texas wurde zunächst unabhängige Republik, 1845 dann der 28. Staat der Vereinigten Staaten. Ein Jahr später proklamierten auch in Kalifornien amerikanische Siedler die Unabhängigkeit ihres Landes von Mexiko, und nachdem die amerikanische Armee im Krieg gegen Mexiko Kalifornien und weitere riesige Gebiete im Südwesten erobert hatte, wurde es 1850 offiziell als neuer Staat in die Union aufgenommen. Schon 1846 hatte Großbritannien einen Großteil der Wildnis im Nordwesten den Vereinigten Staaten überlassen – hauptsächlich das Gebiet der späteren Staaten Washington, Oregon und Idaho. Im Jahr 1853 kaufte man der mexikanischen Republik nun auch den südlichen Teil des späteren New Mexico ab, 1867 schließlich dem Kaiserreich Russland Alaska. Von da an hatten die Vereinigten Staaten mehr oder weniger ihre heutige Form.
Von dem ungeheuren Elan der Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts zeugen auch die vielen Erfindungen, die 1851 auf der ersten Weltausstellung im Londoner Kristallpalast präsentiert wurden. Ein Besucher berichtete, die amerikanischen Maschinen könnten »Nägel stanzen, Stein schneiden, Kerzen gießen – mit einer Genauigkeit, Schnelligkeit und unermüdlichen Zuverlässigkeit, die andere Nationen fassungslos machen«. Bis 1880 wurden in den Vereinigten Staaten mehr Eisenbahn- und Telegrafenkilometer gebaut und verlegt als in allen europäischen Ländern zusammen. So viel Kraft, so viel Vitalität, es war wirklich ein gesegnetes Land – in Abraham Lincolns Worten » the last best hope of earth «.
Es waren die Jahrzehnte, in denen Chicago zu einer Weltstadt heranwuchs, die Epoche, die den Charakter dieser Stadt prägen sollte, denn eine solche Dynamik musste zwangsläufig auch starke soziale und politische Spannungen verursachen. 1848 wurden sowohl die erste Eisenbahnstrecke nach Chicago als auch der Illinois-und-Michigan-Kanal fertiggestellt, ein wichtiges Teilstück im System der Flüsse und Kanäle, das die Großen Seen mit dem Mississippi verbindet; der Hafen von Chicago wurde dadurch schnell zum größten Binnenhafen der Welt.
In Chicago konnte sich der amerikanische Erfindungsgeist austoben. Weil viele Gebäude immer tiefer in den weichen Boden einsanken, beschloss der Magistrat im Jahr 1856, die Häuser, Straßen und Gehwege der Innenstadt um mehr als einen Meter anzuheben. Dieser Plan wurde in der zweiten Hälfte der fünfziger und in den sechziger Jahren umgesetzt. Das steinerne, fünfstöckige Briggs House, ein Hotel, wurde mit zahlreichen Winden angehoben, ohne dass der Hotelbetrieb unterbrochen werden musste. Als 1871 ein
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