Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
eingeplante Reisezeit war sehr knapp bemessen, und der kalte Herbst näherte sich rasch. Allerdings hatte er 1936, im Rahmen der Vorarbeiten zu Früchte des Zorns , etwas Ähnliches unternommen. Damals hatte er einen Bäckerwagen angeschafft, einen pie waggon , wie er ihn nannte, und hatte ihn zu einem fahrenden Büro umgebaut. Diesmal rüstete er Rosinante als eine Art »Landschiff« aus, mit allen möglichen Werkzeugen, Seilen, Angeln, Gewehren, Schreibutensilien, Landkarten, einer Enzyklopädie, Dutzenden anderer Nachschlagewerke, einer Winde und einem Flaschenzug und mit einem achtzig Liter fassenden Wassertank.
Ein halbes Jahrhundert später habe ich den Wagen im National Steinbeck Center in Salinas gesehen. Es handelte sich um einen unverwüstlichen Pick-up mit Allradantrieb und einem Ofen, mit dem man einen Polarwinter hätte überstehen können. Auf der Ladefläche war ein weiß gespritzter Campingaufbau aus Aluminium montiert, dessen Inneneinrichtung tatsächlich an ein Boot erinnert: eine gemütliche hölzerne Kajüte mit einem großen Tisch und zwei braunen ledernen Schlafplätzen, einem weißen Waschbecken, einer kleinen Kochgelegenheit, einem kleinen Kühlschrank, grün-braunen Vorhängen, ein paar Bildern von Jägern und Hunden in Aktion und überall in den Wänden Klappen und Schranktürchen. Die Kabine, in welcher der Fahrer den Tag verbrachte, war hingegen eine große metallene Klapperkiste, so wie bei Nutzfahrzeugen üblich. Sie war kaum mehr als ein einfach ausgestatteter Arbeitsplatz mit einer harten grauen Sitzbank, soliden Pedalen, ohne Servolenkung und anderen Luxus.
Steinbeck war, so seine Freunde, aufgeregt wie ein Schuljunge. In demselben Brief an Toby Street schrieb er: »Ich habe einen Pritschenwagen mit einer Hütte darauf, wie die Kajüte eines kleinen Boots. Wo immer ich auch anhalte, ich werde zu Hause sein. Im Wagen gibt es einen Herd, eine Bank, einen Schreibtisch und einen Kühlschrank. Charley wird mich begleiten. Das ist absolut notwendig für mich. Ich muss erfahren, wie das Land aussieht, wie es riecht, wie es klingt.«
Es sollte, kurzum, die klassische Reise des einsamen Helden werden, mit Charley als Sancho Pansa, dem Schildknappen, auch wenn dessen nüchterne Kommentare sich auf das Heben des Beins beschränkten, überall in Amerika, an Tausenden von Bäumen.
3
Am 23. September 1960, einem klaren Freitagmorgen – der gelbbraune Herbst hing bereits in der Luft –, machten John Steinbeck und Charley sich gemeinsam auf den Weg, erfüllt von vagen Unlustgefühlen, jedenfalls was Steinbeck anging. Charley fand alles wunderbar, wenn er nur auf der Bank neben seinem Herrchen sitzen durfte. Ihre Expedition hatte wahrhaft alle Merkmale eines Don-Quichot-Projekts, im vollen Galopp in den Kampf gegen Windmühlen.
Ich selbst kam mir, ein halbes Jahrhundert danach, ebenfalls wie ein Narr vor. Steinbecks Reisebericht Travels with Charley ( Die Reise mit Charley ) war 1962 erschienen; später, 1966, folgte dann noch eine Reihe interessanter Nachbetrachtungen mit dem Titel America and Americans ( Amerika und die Amerikaner ). Dieses ganze Projekt hatte mich immer schon fasziniert, und ich fand Die Reise mit Charley bereits beim ersten Lesen spannend, voller Farben und menschlicher Stimmen, geistreich und gut geschrieben. Die Geschichte springt hin und her, wie die Gedanken und Assoziationen von jemandem, der den ganzen Tag am Steuer sitzt: Du fährst durch eine Herbstlandschaft, dann geht dir eine Erinnerung durch den Kopf, eine Stunde später hockst du in einem diner zwischen schweigenden Farmern, der Regen prasselt herab, danach sitzt du in der Abendsonne an einem stillen Fluss, und die ganze Zeit über studierst du das Land.
Was für ein ansteckendes Buch! Es brachte mich auf die Idee, eine ähnliche Inspektionsreise durch Europa zu unternehmen – ich war ein ganzes Jahr unterwegs, und mein Vorhaben entwickelte sich zu einem vollkommen anderen Projekt, doch sein Ursprung lag in Steinbecks Buch. Danach kam mir der Gedanke, seine Reise zu wiederholen, mit den Augen und Ohren von heute. Aber war das eine gute Idee, als europäischer Journalist Amerika zu erkunden?
Wir Europäer haben mit unserem Luxus und unserem Wohlstand eine vergleichbare Entwicklung durchgemacht wie die Amerikaner, wenn auch etwas weniger opulent, mit vielen regionalen Unterschieden und mit dem Ballast von zwei ruinösen Weltkriegen. Die Veränderungen sind langsamer verlaufen: Als die Steinbecks sich im
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