Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
nicht genug Platz, und nach ein paar Telefonaten brachte man mich in die Wohnung von anderen Freunden von Freunden, so wie man das damals eben machte. Man schob mich eine schmale Treppe hinauf, ich fiel erschöpft auf ein Bett und schlief wie ein Stein, beinahe zwölf Stunden.
Das Erste, was mir am nächsten Morgen auffiel, war das Licht. Für uns aus den ewig nebligen Niederlanden ist das seltsame, glasklare kalifornische Licht ein Wunder. Ich konnte nicht genug davon bekommen. Und dann war da der typische Geruch eines amerikanischen Holzhauses, vermischt mit dem von Tausenden von Büchern, die überall in den Zimmern und Mansardenkammern standen. Da hindurch stieg der würzige Duft von gut gemachten Rühreiern nach oben, Ediths berühmten scrambled eggs , und irgendwie fühlte ich mich zu Hause. Es war ein Glücksgefühl, das mich nie wieder verließ, jedes Mal wenn ich hierherkam: das Licht, die Gerüche, die Wärme.
Ich sprang aus dem Bett, zog mich an, ging die Treppe hinunter in die Küche, und dort begannen wir zu reden, zu diskutieren und zu lachen. Edith, Lou und ich. Es war sieben Uhr morgens, und auf einmal war es ein Uhr, und so begann eine innige Freundschaft.
Lou starb Mitte der achtziger Jahre. Edith wurde eine würdevolle alte Dame. Sie konnte schlecht gehen, arbeitete aber weiter, in einer kleinen Bibliothek für die Liebhaber der marxistischen Theologie. Sonntagnachmittags schauten wir uns manchmal alte Fotos an, die wir unter ihrem Bett hervorkramten, in dem sie damals schon ziemlich viel Zeit verbrachte. Ich traute meinen Augen nicht. » Jeepers Creepers! Where’d ya get those peepers? Jeepers Creepers! Where’d ya get those eyes? « Das war das Lied, das zu der jungen Edith gehörte, als sie in New York ihren Lou traf, an einem der Sommerabende des Jahres 1945, als alle auf dem Times Square tanzten. Ein wunderschönes jüdisches Mädchen, intelligent und geistreich, niemand konnte so lachen wie sie.
Mit sechzehn wollte sie Filmstar werden, und mit ihren Augen wäre ihr das bestimmt auch gelungen. Eines Abends kam ein Onkel zu Besuch, ein führender Mafioso, für sie ein Verwandter wie alle anderen. »Was willst du werden?«, fragte er sie. »Ich will nach Hollywood«, sagte sie entschlossen. »Okay«, sagte der Onkel. »Hier hast du 1000 Dollar als Startkapital, aber dann musst du sofort aufbrechen!« Er blätterte die Geldscheine auf den Tisch. Im Zimmer wurde es totenstill. Edith zögerte keine Sekunde, packte die Scheine, rannte die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße. Wenig später musste sie von Vater und Brüdern von dem Haltestellenpfahl weggezerrt werden, an den sie sich, vor Wut schreiend, klammerte.
Sechzig Jahre danach schauten wir uns gemeinsam die großen Fernsehshows an. Sie war tatsächlich nach Kalifornien gegangen, war in einem Antiquariat gelandet, das sie zusammen mit ihrem Mann Lou betrieb, sie hatte zwei Söhne großgezogen, war zu einer ziemlich orthodoxen Linken geworden – tagelang haben wir über die Sowjetunion diskutiert –, aber die glanzvollen großen Shows, die liebte sie immer noch über alles. Sie war durch und durch amerikanisch, meine zweite Mutter, erfüllt von amerikanischen Idealen und vom amerikanischen Traum, und gerade deshalb stand sie ihrem Land auch so kritisch gegenüber. Edith war sechsundachtzig, als sie 2007 starb.
Vielleicht war es ihr Tod, der mich erneut über das Steinbeck-Projekt nachdenken ließ. Warum auch nicht? Ich las Die Reise mit Charley zum zweiten Mal, aber jetzt mit dem Augenmerk auf den praktischen Aspekten des Unternehmens. Steinbecks Reiseplan war gut durchdacht, die Strecke konnte problemlos wieder abgefahren werden. Und außerdem: Was war schöner, als seine Tour genau fünfzig Jahre später noch einmal zu machen, im Herbst des Jahres 2010, mit John und Charley in Gedanken an meiner Seite und derselben Frage vor Augen: Was ist in den zurückliegenden Jahrzehnten mit diesem »monströsen Land« geschehen?
Das nahe und doch so fremde Amerika war überaus prägend für uns Europäer. Und trotzdem: Was wissen wir eigentlich über dieses Land? Und was wissen wir nicht? Was war echt, was Schein, was Mythos? Und was bringt die Zukunft, jetzt, wo das glorreiche amerikanische 20. Jahrhundert vorbei ist? Wie geht diese Nation ins 21. Jahrhundert? Bleiben die Amerikaner wegweisend für uns?
Ich beschloss zu fahren. Ohne allzu große Erwartungen, mit offenen Augen und einem leeren Kopf, nur für mich selbst. Windmühlen
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