Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
Vom Netzwerk:
oder nicht, was kümmerte es mich.
    John Steinbeck hatte 1960 allen Grund, sich auf eine Inspektionsreise zu begeben. Sein altes Amerika hatte sich in einem unvorstellbaren Tempo verändert, es war unter seinen Augen davongelaufen, rasend schnell.
    Ein Jahr zuvor, am 24. Juli 1959, war es während der American National Exhibition in Moskau zu einer historischen Konfrontation gekommen, ein unerwartetes politisches Duell zwischen dem republikanischen Vizepräsidenten Richard Nixon und dem sowjetischen Regierungschef Nikita Chruschtschow, in dem die Übermacht des American Century noch einmal demonstriert wurde. Es war eine fast surrealistische Szene, das große Gespräch zwischen dem Kommunismus und dem glanzvollen Amerika der fünfziger Jahre, zwischen den beiden Ideologien, die damals die Welt bestimmten, und das alles vor der Küchenanrichte einer amerikanischen Modellwohnung, die dort aufgebaut war.
    Alle hatten den Luxus bestaunt, und die Sowjetpresse sprach höhnisch vom »Taj Mahal«: Diese Wohnung sei für den Durchschnittsamerikaner ebenso repräsentativ wie der Taj Mahal für die Wohnverhältnisse in Indien. Nixon widersprach: Für eine Rate von 100 Dollar im Monat könne sich ein amerikanischer Stahlarbeiter solch ein Haus durchaus leisten. Chruschtschow entgegnete schlagfertig: »Ihr braucht Dollar, um ein solches Haus zu besitzen, bei uns muss man dafür nur in unserem Land geboren sein.«
    Die Männer standen sich dicht gegenüber, der gedrungene urkrainische Bauer und der Sohn eines kalifornischen Tankstellenbetreibers. Nixon, mit den Fingern in Richtung Chruschtschow wedelnd, während er die amerikanischen Errungenschaften der fünfziger Jahre aufzählte: Die 44 Millionen amerikanischen Familien besäßen insgesamt 56 Millionen Autos, 50 Millionen Telefonapparate und 143 Millionen Radios und so weiter. »Die Zahlen zeigen«, rief Nixon, »dass die Vereinigten Staaten, das größte kapitalistische Land der Welt, wenn es um die Verteilung des Reichtums geht, dem Ideal des Wohlstands für alle in einer klassenlosen Gesellschaft am nächsten kommen.« Danach drückte Nixon Chruschtschow eine Flasche Pepsi-Cola in die Hand, und so wurde der Regierungschef verewigt – der endgültige Sieg Pepsis und Amerikas.
    Dabei war der Wohlstand Amerika nicht in den Schoß gefallen. Während der ersten Nachkriegsjahre hatte sich das Land nicht gerade in Siegesstimmung befunden. Neben Freude herrschte ein Gefühl der Demut. Die Geschehnisse des Krieges waren so überwältigend gewesen, hatten derart viele Familien getroffen und oft zerstört, dass alle Alltagssorgen angesichts des vernichtenden Weltkriegs bedeutungslos erschienen.
    »Wer heute auf das Jahr 1945 zurückschaut, erblickt ein vollkommen anderes Zeitalter auf der anderen Seite einer Art Narzissmusgrenze«, notierte der konservative Kommentator David Brooks mehr als sechzig Jahre später. »Einfachheit und das Gefühl, dass im Kern alle gleich sind, waren ein wichtiger Teil der damaligen Kultur.« Das Gefühl der Bescheidenheit hielt sich im Europa der fünfziger Jahre noch eine ganze Zeit, in Amerika verschwand es bald wieder.
    Die erwachsenen Amerikaner, die in den fünfziger Jahren in hellblauen Chevys herumfuhren, hatten zudem den harten Kampf ums Überleben vor und nach der Großen Depression in seinem ganzen Ausmaß mitgemacht; ihre Familien hatten lernen müssen, was Hunger ist, und diese Erfahrung prägte ihre Lebenseinstellung. Selbst in den zwanziger Jahren, so swingend sie auch waren, lebten mehr als 40 Prozent der Stadtbevölkerung in Armut.
    Ich erinnere mich, wie Lou von seiner Jugend um 1920 in einer großen jüdischen Familie in der Lower East Side in New York erzählte. Infolge einer Erkrankung an Gelbfieber in jungen Jahren hörte er schlecht, und er ging auch ein wenig schwankend aufgrund früherer Leiden. Sein Vater war ein Spieler. Er erinnerte sich an den Hunger, daran, wie er an Jom Kippur Brot holen musste, unterwegs heimlich ein Stück abbiss und dachte: Es kann keinen Gott geben, der ein hungerndes Kind wegen eines kleinen Stückchens Brot mit dem Blitz erschlägt.
    Auch die meisten Idole der fünfziger Jahre, von Präsident Eisenhower bis hin zu Elvis Presley, kannten das Leben am Rande der Gesellschaft gut. Dwight D. Eisenhower wuchs in einem einsamen Städtchen des Mittleren Westens auf, in Abilene, das nicht einmal über gepflasterte Straßen und Bürgersteige verfügte. Wenn es regnete, war auch die Hauptstraße ein einziges

Weitere Kostenlose Bücher