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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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Morgen, und das reservierte Zimmer wurde erst mittags frei. Nach einigem Drängen überließ man ihm bis dahin ein anderes, gerade frei gewordenes, aber noch nicht hergerichtetes Zimmer, damit er sich ausruhen und ein Bad nehmen konnte.
    Das Ambassador East Hotel steht in einem ruhigen Viertel mit vielen Bäumen, North State Parkway, Ecke Goethe Street. Als ich »dieses elegante und teure Etablissement« betrete, verstehe ich gut, dass Steinbecks städtisches Alter Ego sich dort sehr wohl gefühlt hat; die Atmosphäre des Hauses scheint unverändert. Riesige Kronleuchter aus Kristall beherrschen die Halle, der Boden besteht aus auffälligem grünem Marmor, und überall glänzt blankes Messing: Treppengeländer, Lampen, sogar die Aufzugtüren sind daraus gemacht.
    Wir kommen gerade noch rechtzeitig, um das Hotel so zu sehen, in zwei Monaten wird alles für eine gründliche Renovierung auf den Kopf gestellt. Im Pump Room , dem Restaurant, hängen Hunderte Porträtfotos von Berühmtheiten, die sich hier amüsiert haben; wir entdecken Frank Sinatra, Nixon, die Kennedys. Doch von John und Elaine keine Spur. Der Restaurantchef zuckt mit den Schultern: »Wir haben noch etwa achthundert Bilder im Keller, bestimmt sind sie irgendwo dazwischen. Aber wir sind gern halbwegs aktuell.«
    In seinem Reisebericht schildert Steinbeck, wie er das unaufgeräumte Zimmer vorfindet; aus den Spuren von »Lonesome Harry«, so nennt er den kurz zuvor abgereisten Gast, rekonstruiert er mit detektivischem Scharfsinn die Ereignisse des Vortags und der vergangenen Nacht in diesem Zimmer, entwirft sogar ein Profil des Unbekannten. Wäschereizeichen auf Papierbanderolen von Hemden lassen darauf schließen, dass der Mann aus Westport, Connecticut, stammt. Er war auf Geschäftsreise; darauf deutet ein Briefentwurf im Papierkorb hin: »Darling, alles läuft o.k. […] Ich schreibe dies, während ich auf den Anruf von C.E. warte. Hoffe, er bringt den Vertr…«. Es hatte ein Brief an Harrys Frau werden sollen. Doch Harry wartete gar nicht auf einen gewissen C.E. mit einem Vertrag, sondern auf eine brünette Dame mit blassem Lippenstift, das verraten ein kleiner Kamm und die Spuren auf Zigarettenstummeln im Aschenbecher und auf dem Rand eines Highballglases. Die beiden haben eine Flasche Jack Daniel’s geleert und zusammen das Bett benutzt, aber die Dame ist nicht über Nacht geblieben, denn das zweite Kopfkissen ist nur leicht eingedrückt und nicht zerknittert wie ein Kissen, auf dem jemand geschlafen hat.
    Es folgen noch einige andere Beobachtungen und interessante Schlussfolgerungen. Das Ganze wirkt fast zu perfekt, um wahr zu sein. Vor Jahren behauptete der Kritiker Alfred Kazin, Steinbecks Figuren seien immer fast, aber nie ganz menschlich. In Fällen wie diesem ist das nicht völlig abwegig. Wieder geht mir die Bemerkung von Steinbecks Sohn John durch den Kopf, sein Vater habe sich vermutlich alles, was er in Die Reise mit Charley schildert, aus den Fingern gesaugt. Je weiter wir mit unserer Unternehmung vorankommen, desto mehr beschäftigt mich die Frage, wie weit ich dem Bericht meines Reisegefährten aus der Zeit vor fünfzig Jahren vertrauen kann. Unstimmigkeiten im zeitlichen Ablauf hatte ich ja schon bemerkt. Steinbeck muss pro Tag so viele Stunden gefahren sein, dass ihm kaum Zeit für ruhige Beobachtung, geschweige denn für ausführliche Gespräche blieb. Außerdem wird er, müde und niedergeschlagen, wie er war, kein besonders guter Beobachter gewesen sein. Von der ausgelassenen Fröhlichkeit des Romans Die Straße der Ölsardinen findet man im Charley -Buch nur noch wenig, es wird nicht viel gelacht. Ein Rezensent vermutete schon kurz nach dem Erscheinen des Berichts, dass nicht nur Charley auf dem Beifahrersitz gesessen habe, sondern auch ein »Bär von einer Depression«.
    Ich muss an die eigenartige Geschichte von dem Geistermotel denken, bei dem Bill Steigerwald und John Woestendiek plötzlich aufgetaucht waren, ebenfalls auf Reisen mit dem Geist von John. Steinbeck hat angeblich zweimal in der Nähe von Lancaster, New Hampshire, Station gemacht, das erste Mal auf der Fahrt zur Deer Isle, als er auf dem Land eines Farmers kampiert und sich mit ihm über Politik unterhalten hatte, und das zweite Mal bei dem gespenstisch leeren Motel. Anders als ich hatten Steigerwald und Woestendiek den örtlichen Chronisten Jeff Woodburn, an den ich verwiesen worden war, zu Hause angetroffen und von ihm erfahren, dass es ein solches Motel, das

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