Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
amerikanischen Politik in den vierziger Jahren. Die Grundlage politischer Macht bildeten fast überall die verschiedenen lokalen Parteiapparate. Für Chicago gelte das immer noch, meint Geoffrey, und es sei ein Apparat mit großem Einfluss auf nationaler Ebene, obwohl auch er schon etwas Rost angesetzt habe.
Nach zahlreichen Korruptionsskandalen und FBI -Ermittlungen sei es aber inzwischen weniger selbstverständlich, politische Unterstützung zu »kaufen«, indem man Verwaltungspöstchen vergibt oder für Beförderungen sorgt. »Diese Stadt wird seit Menschengedenken vom combine regiert, einer unübersichtlichen Clique aus Demokraten, Republikanern, Wirtschaft und Mafia. Die Mafia hat viel von ihrer Macht verloren, aber das System der Deals und Kompromisse funktioniert noch immer.«
»Und Barack Obama?«, fragt meine Frau. »Hat er sich nicht sehr geschickt nach oben gearbeitet?«
»Ach was«, entgegnet Geoffrey. »Es war eher umgekehrt: Die Parteileute haben Obama als ihren Mann für die kommenden Jahre ausgewählt und sehr viel in ihn investiert.« Und er habe Glück gehabt, denn unter normalen Umständen wäre ein solcher Durchbruch im politischen Apparat Chicagos fast unmöglich gewesen. Aber dann habe sich durch die Missbrauchsaffäre eines Politikers unerwartet eine Lücke aufgetan.
» Change ?«, fragt Geoffrey höhnisch. »Hören Sie bloß auf. So wie Bush ein Produkt des Texas combine und Reagan des kalifornischen combine waren, so war und ist Obama ganz und gar ein Produkt des Chicago combine . Und wenn es etwas gibt, das sich nie ändert und auch keine wirkliche Veränderung duldet, dann ist es die Parteimaschinerie von Chicago.«
Obama wird gern mit Kennedy verglichen – nach Ansicht unserer Gesprächspartner zu Recht. Wie Kennedy sei er ein ausgezeichneter Redner mit großem rhetorischem Talent, aber mehr auch nicht. Obama sei in dieser Stadt als Politiker sozialisiert worden; das erkläre auch seine ausgeprägte Neigung zu Kompromissen – in Chicago laufe ohne Kompromisse gar nichts. »Aber als Produkt des combine hat er dieses Künstliche nie ganz verloren«, meint Geoffrey. »Er ist ein außergewöhnlicher Mann, aber auch eine Konstruktion. Geschaffen von ihm selbst und anderen. Er ist konstruiert aus Teilen seiner Geschichte, aus Ideen und aus Worten. Aber echt, nein, für mich ist er das nicht.«
Mitten in seinem Bericht schreibt Steinbeck, viele Freunde hätten ihm vor seiner Abreise gute Ratschläge erteilt. Einer von ihnen war ein bekannter und angesehener politischer Journalist. Er hatte voller Bitterkeit über die amerikanische Politik gesprochen, er glaubte, die Nation sei krank. »Wenn du irgendwo unterwegs auf jemanden triffst, der Mumm hat, dann markier den Ort. Ich möchte hingehen und ihn kennen lernen. Ich habe nichts als Feigheit und Opportunismus gesehen. Wir waren einmal eine Nation von Giganten. Wo sind sie geblieben? Man kann eine Nation nicht mit Aufsichtsräten verteidigen. Dazu braucht es Männer. Wo sind die?«
Steinbeck fand tatsächlich keine Männer mit guts und »nicht viele Überzeugungen«. Zweimal hatte er zwar »Richtige-Männer-Kämpfe gesehen, solche mit bloßen Fäusten und phantastischer Regelwidrigkeit«, aber in beiden Fällen ging es um Frauen, nicht um Politik.
Ich selbst habe noch lange über den fröhlichen Austausch von Meinungen und Vorurteilen an jenem warmen Oktoberabend des Jahres 2010 nachgedacht und mich gefragt, wo heute die Männer mit Mumm sind. Wie rein und natürlich muss die amerikanische Demokratie den Europäern des 18. Jahrhunderts und Reisenden wie Tocqueville vorgekommen sein, die auf dem eigenen Kontinent den Verfall eines beinahe abgewirtschafteten Adels oder einer korrumpierten Regentenklasse erlebten! Und wie ist es heute?
Mehr als ein Jahrhundert nach Tocqueville hatte Steinbeck an der politischen Praxis vieles auszusetzen – »Unser ganzes Volk ist überzeugt, dass Politik ein schmutziger, ränkevoller, unlauterer Beruf ist und dass alle Politiker Gauner sind«, schreibt er in Amerika und die Amerikaner . Dennoch bewunderte er immer noch das politische System als solches. Schließlich sei es diesem System zu verdanken, dass trotz aller Korruption, trotz aller Intrigen und Machenschaften überwiegend wohlmeinende und fähige Personen an die Macht gekommen seien. »Da ist wieder eines unserer Paradoxa. Und in diesem Falle sind wir vom Glück begünstigt – behütet von einem freundlichen, humorvollen Schutzgeist –, oder
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