Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
mäandriert träge durch die Landschaft; entlang seines Ufers schlängelt sich eine Eisenbahnlinie, die endlosen, gemächlich dahinstampfenden Güterzüge gehören irgendwie auch zum Rhythmus dieses Landes. Steinbeck nennt diesen Teil seiner Reise eine »Liebesaffäre«, und ich kann ihn verstehen. »Mir scheint, Montana ist ein großes Stück Pracht und Herrlichkeit. Die Dimensionen sind riesig, aber nicht überwältigend. Das Land strotzt von Gras und Farben, und die Berge sind von der Art, wie ich sie erschaffen würde, wenn Berge jemals auf meiner Agenda stünden.« Wenn es am Meer läge, würde er augenblicklich hinziehen »und um Einbürgerung ersuchen«.
Wir machen, wie Steinbeck, einen Abstecher nach Süden. Auf dem Highway 38 erheben sich plötzlich in der Ferne ein paar Fabriken aus der Ebene. Colstrip heißt der Ort, ein Knäuel aus riesigen Anlagen, Rohrleitungen und Förderbändern, daneben eine Siedlung aus Kunststoffhäusern und Wohnwagen für die Arbeiter, ein paar Schuppen. Dann wieder Einsamkeit. Ein Stück weiter steht hier und da ein einzelnes Haus in der Prärie, oft sind es eher Hütten, umgeben von vier, sechs, zehn Autos und Autowracks. Hier leben die Ureinwohner des Landes, die Indianer des Jahres 2010.
Steinbeck machte den kleinen Umweg, um das Schlachtfeld am Little Bighorn zu besuchen, den Ort, wo am 25. Juni 1876 die letzte große Schlacht zwischen dem ursprünglichen Amerika und allem, was danach kam, ausgetragen wurde. Tausende von Indianern unter Führung des legendären Häuptlings Sitting Bull machten an jenem heißen Nachmittag kurzen Prozess mit der kleinen Streitmacht, die zu einer Strafexpedition aufgebrochen war. Die Kompanien C, E, F, I und L des 7. Kavallerieregiments unter dem Kommando des populären Generals George Amstrong Custer wurden bis auf den letzten Mann aufgerieben.
Die Nachricht von der Schlacht erreichte das übrige Amerika am 7. Juli 1876, als die Festlichkeiten anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Republik ihren Höhepunkt erreichten. Zunächst konnte keiner glauben, dass »ihrem« Custer, »ihren« Soldaten und »ihrer« von Gott gesegneten Nation von diesen »Wilden« eine derartige Niederlage zugefügt worden war. Amerika, selbst Amerika, war also verwundbar. Die Schlacht am Little Bighorn war für die damalige amerikanische Gesellschaft fast ebenso traumatisch wie Pearl Harbor 1941 oder 9/11 im Jahr 2001. Es war ein Drama, aber es war mehr als das. Es war auch ein Ereignis mit einer Botschaft, eine Geschichte voller verborgener Symbolik.
Kennzeichnend für Amerika und für das Amerikanersein ist die Entscheidung, der Wille. Niederländer, Spanier oder Pole – in Europa ist der Besitz einer Nationalität in den meisten Fällen Schicksal, man wird in sie hineingeboren. Die amerikanische Staatsangehörigkeit dagegen beruht auf einem Willensakt. Mit ihr entscheidet man sich für die Immigration und Integration, eine Wahl, die oft bereits in ferner Vergangenheit getroffen wurde, danach immer wieder bestätigt wird und die auch in den heutigen Generationen noch weiterlebt. Auf zwei Bevölkerungsgruppen trifft das nicht zu: auf die Farbigen, deren Vorfahren unter Zwang hierher verschleppt wurden und die allein schon deshalb der amerikanischen Erfolgsgeschichte mit der nötigen Ironie und Ambivalenz gegenüberstehen, und auf die Indianer, die seit Urzeiten hier lebten und die ebenso wenig eine Wahl hatten.
Die Amerikaner haben auffallend wenig von den ursprünglichen Bewohnern dieses Kontinents übernommen. Spanische, britische und niederländische Kolonisten machten sich, ungeachtet aller Überlegenheitsgefühle, fast immer eine Reihe von Eigenarten der fremden Küche zu eigen, sie verwendeten koloniale Elemente beim Wohnungsbau und interessierten sich für die Landbautechniken der Ureinwohner. Im heutigen Amerika sind, bis auf bestimmte Maisgerichte und einige Ortsnamen, keine indianischen Einflüsse erkennbar. Die Indianer passten schlichtweg nicht in das Bild von der Neuen Welt, die hier geschaffen wurde. Sie hatten sich nicht dafür entschieden, hier zu leben, es war ihnen einfach widerfahren, sie waren keine echten Amerikaner und somit auch nicht Teil dieses großen historischen Experiments. Eigentlich durfte es sie gar nicht geben.
Anfangs, als der übergroße Teil der Siedler noch an der Küste wohnte, hatten die Weißen großes Interesse an einer guten Zusammenarbeit mit den Ureinwohnern. Biberfelle und andere Handelswaren mussten
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