Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
immer mehr an eine riesige Museumsbahn.
Mir ist noch ein Gespräch mit einem Schaffner im Gedächtnis, irgendwann an einem Nachmittag, als wir durch die staubige Einöde Arizonas tuckerten: »Als ich neu in diesem Job war, fuhren zwischen New York und New Orleans noch zehn, zwanzig Züge pro Tag«, berichtete er. »Heute fährt noch genau einer. Dasselbe auf der klassischen West-Ost-Strecke Chicago – San Francisco. Das letzte Stück muss man sogar mit einem Bus zurücklegen, der Zug fährt nicht weiter als bis nach Oakland, seit es die Eisenbahnbrücke nicht mehr gibt. Und die Strecke New Orleans – Los Angeles wird nur noch dreimal die Woche bedient.«
Auch die Ausnahmen sind bekannt: Vorortzüge und die Acelalinie, die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Washington und Boston, erledigen einen Großteil der lokalen Personenbeförderung. Das sind, in europäischen Maßstäben, ganz normale Züge. Doch während der französische TGV schon seit Jahrzehnten mit rund 180 Meilen die Stunde zwischen Paris und Lyon durch die Landschaft rast, kommt selbst der Acela im Durchschnitt kaum über 90 hinaus. Die Gleise sind für höhere Geschwindigkeiten nicht geeignet. Der Kolumnist Thomas Friedman bemerkt nicht ganz zu Unrecht: »Wenn alle Amerikaner den neuen Hauptbahnhof in Berlin mit der dreckigen, heruntergekommenen Penn Station in New York City vergleichen könnten, dann würden sie schwören, dass wir diejenigen sind, die den Zweiten Weltkrieg verloren haben.«
Die Amtrakzüge sind auf denselben alten Gleisen unterwegs wie die Güterzüge, die nicht schneller als 50 Meilen die Stunde fahren. Schon das drückt enorm aufs Tempo. Die Personenzüge schaffen höchstens 70 Meilen pro Stunde, oft sind sie langsamer. Während im China des Jahres 2012 ein Hochgeschwindigkeitsnetz mit zweiundvierzig Strecken zur Verfügung steht, zuckelt zwischen den großen Ballungsräumen an der amerikanischen Westküste, San Diego und die Bay Area, einmal am Tag ein Personenzug hin und zurück, an allen Bahnübergängen klingelnd und pfeifend, als hätte seit 1910 keine technische Entwicklung stattgefunden. Es gibt Pläne für dreizehn Hochgeschwindigkeitsverbindungen – unter anderem zwischen New York und Buffalo, Los Angeles und San Francisco sowie zwischen Chicago und Detroit –, aber es wird noch Jahre dauern, bevor man hier mit dem Bau beginnt. Wenn überhaupt etwas davon realisiert wird.
In manchen Bereichen herrscht seit Jahrzehnten selbstzufriedener Stillstand. Von Europa kennen wir das, bei den dynamischen Vereinigten Staaten ist es eine Überraschung. Hinzu kommt, dass die meisten Amerikaner keine Vorstellung davon haben, wie weit sie auf bestimmten Gebieten zurückliegen, weil sie nie einen Schritt über die Grenzen ihres eigenen Landes gesetzt haben. So bleibt die Selbstzufriedenheit unbeschadet.
In North Dakota hatte ich eines Morgens, um vorsichtshalber doch einmal den Ölstand zu kontrollieren, einen Blick unter die Motorhaube unseres nagelneuen Jeeps geworfen. Eine seltsame Erfahrung. Natürlich war in das Auto jede Menge zusätzliche Elektronik eingebaut worden, alles schien geschmeidiger und komfortabler zu sein, doch was ich da sah, entsprach im Prinzip genau dem, was auch Steinbeck in seiner Rosinante gesehen haben muss: ein großer Motorblock mit viel Hubraum und einer gewaltigen Lichtmaschine, eine Konstruktion, die einiges aushielt, die aber auch langsam war und Material und Benzin fraß.
Und im Großen passiert dasselbe wie unter meiner Motorhaube. Auf meinem Bildschirm rumpeln die E-Mails herein wie träge Güterzüge. Was die Geschwindigkeit des Internets angeht, stehen sogar große amerikanische Städte erstaunlich weit hinten auf der Rangliste. Nach einer Reihe von südkoreanischen, japanischen, chinesischen und europäischen Städten kommt die erste amerikanische Stadt – San José – erst auf Platz 57.
Ende 2012 hat jeder Haushalt in Südkorea eine Internetverbindung mit einem Datendurchsatz von einem Gigabyte pro Sekunde. Das ist zweihundertmal schneller als das Internet eines durchschnittlichen amerikanischen Haushalts.
Was die Qualität der Infrastruktur angeht, stehen die Vereinigten Staaten, laut einem Bericht des World Economic Forum aus dem Jahr 2010, auf dem 23. Platz, zwischen Spanien und Chile. Rund um die großen Städte gibt es weitaus schlimmere Staus als in Westeuropa, und über ein Drittel der innerstädtischen Straßen gilt als sehr problematisch. Eine von neun Brücken ist
Weitere Kostenlose Bücher