Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Steinbeck den Farmer berichten, dass Chruschtschow bei den Vereinten Nationen einen Schuh ausgezogen und damit auf den Tisch gehämmert habe – in Wirklichkeit hat sich diese berühmte Szene erst am 12. Oktober abgespielt; offensichtlich ist das Gespräch also zumindest in diesem Punkt fingiert. Im Buch kommen die beiden auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zu sprechen, auf ein allgemeines Gefühl der Verunsicherung. Frühere Generationen, meint der Farmer, hätten mehr Gewissheiten gehabt. »Was nützt eine Meinung, wenn man nichts richtig weiß? Mein Großvater wusste die Zahl der Haare im Bart des Allmächtigen. Ich weiß nicht mal, was gestern passiert ist, ganz zu schweigen von morgen.«
In der Nacht konnte Steinbeck nicht einschlafen, das Gespräch ging ihm nicht aus dem Kopf, er grübelte über das Phänomen des Fortschritts. Die Menschheit habe vielleicht eine Million Jahre gehabt, um zum Beispiel die Beherrschung des Feuers zu erlernen, vom wärmenden Feuer in einer Höhle bis zu den Hochöfen von Detroit. Heute verfüge sie über eine viel stärkere Kraft, habe aber nicht die Zeit gehabt, »das entsprechende Denken zu entwickeln«. Schon auf der Fahrt nach Deerfield, als er die gewaltigen Mengen von Abfällen und ausrangierten Autos am Rand mancher Städte sah, hatte er sich gefragt, ob man die Folgeerscheinungen des Wohlstands noch in den Griff bekommen könne. »Amerikanische Städte sind wie Dachsbauten: von Abfall umgeben […], umzingelt von Bergen rostender Autowracks und fast erstickt unter Müll […] Wenn ein Indianerdorf im eigenen Unrat zu ersticken drohte, zogen die Einwohner fort. Wir haben keinen Ort, wohin wir umziehen könnten.« Die Hähne hatten schon gekräht, als er einschlief.
Auch ich habe in dieser Septembernacht kaum ein Auge zugetan, und das hing tatsächlich mit dem Fortschritt zusammen, über den schon Steinbeck nachgedacht hatte. Auf seiner Fahrt sah er Motels, die einander in puncto Modernität – oder was man 1960 dafür hielt – den Rang abzulaufen versuchten. Bei Bangor, Maine, übernachtete er in einem besonders modernen, in dem zu seiner Verblüffung fast alles aus Plastik bestand oder in Plastik oder Zellophan verpackt war; die Zahnputzgläser waren eingeschweißt in Zellophanhüllen mit der Aufschrift: »Diese Gläser sind zu Ihrem Schutz sterilisiert worden.« Selbst die Kellnerin war in eine Plastikschürze eingepackt. Ein halbes Jahrhundert später wuchern Herbergen dieses Typs wie weiße Pilze an den Berghängen, Inns , Spas und Resorts mit fünf oder sechs Etagen, Konferenzsälen, Schwimmbädern, endlosen Reihen von Zimmern und Suiten und, genau wie damals, Unmengen von Plastik und Zellophan »zu Ihrem Schutz«.
Das Erfolgsrezept ist kein Geheimnis. Was Europäer häufig stört, empfanden amerikanische Reisende schon in den sechziger Jahren als großen Pluspunkt: Wo man auch hinkam, die Zimmereinrichtung in Holiday Inns und der Geschmack der Speisen in McDonald’s-Restaurants waren überall gleich. Und die Einheitlichkeit des jeweiligen Produkts, die Eintönigkeit, wenn man so will, stand – und steht – für Verlässlichkeit. Andererseits könnte man im Geiste Steinbecks auch fragen: Wenn Einheitsgeschmack und selbst Sterilität nicht nur akzeptiert, sondern sogar erwünscht sind, was sagt das über den emotionalen Zustand eines Landes aus?
Vor Jahren kam ich während einer Campingtour im Hügelland von Oregon an einen Fluss; es war ein schöner Sonntagnachmittag, viele Leute angelten, überall lagen kleine Boote, eine glänzende Forelle nach der anderen wurde aus dem Wasser gezogen. Ein schwimmendes Restaurant am Ufer war gemütlich voll. Wir freuten uns also auf frisch gefangenen Fisch, aber was uns vorgesetzt wurde, waren uniforme Blöcke isländischer Kabeljau, filetiert, gepresst, verpackt und tiefgefroren auf großen Fabrikschiffen. »Tja, das mögen die Leute hier nun mal«, meinte die Wirtin.
Und was ist mit dem Restaurant des Mountain Club Hotel in Lincoln, New Hampshire, in dem wir diese Nacht verbringen? Es ist ein typisches Produkt der Einheitskultur all dieser Ketten: An den Wänden hängen ein paar Requisiten einer rauen Vergangenheit – Schneeschuhe, Eissägen, ein riesiges Hirschgeweih über dem Kamin –, ansonsten flackernde Fernsehschirme; ein Bassist spielt stundenlang dieselbe Tonfolge, im Speisesaal stehen leicht abgenutzte Empirestühle aus Plastik. Diverse Gerüche in ständig wechselnden Kombinationen erfüllen den
Weitere Kostenlose Bücher