Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
lässt ein schmales Büchlein erahnen, das in jenem Herbst vor allem von Demokraten und ihren Anhängern viel gelesen wurde; ein Kenner der Materie hat mich darauf aufmerksam gemacht, und ich fand es in einem amerikanischen Antiquariat. Es ist der Aufsatz Kennedy or Nixon: Does It Make Any Difference? von Arthur M. Schlesinger junior, einem Historiker, der sich damals schon mit einer ausgezeichneten Roosevelt-Biographie einen Namen gemacht hatte. Wie Steinbeck zählte er jahrelang zu den Unterstützern von Adlai Stevenson; beide hatten für Stevenson Reden geschrieben und bewegten sich mehr oder weniger in den gleichen politischen Kreisen.
Wo, fragt Schlesinger, sind in unserer Politik die faszinierenden Persönlichkeiten geblieben, die sich vor Kummer betranken und in Tränen ausbrachen, als die Spanische Republik unterging, die wundervolle, verrückte Träume von der Vervollkommnung der Menschheit träumten, die Roosevelt bejubelten? Die beiden derzeitigen Kandidaten seien offensichtlich cool cats , ohne Leidenschaft und echte Überzeugungen, die Vervollkommnung des organization man – hier spielt Schlesinger auf einen Bestseller von William H. White an. Und er zitiert den Journalisten Eric Sevareid mit den Worten: »Die Management-Revolution hat die Politik erreicht, und Nixon und Kennedy sind ihre ersten vollendeten Produkte.« Der vorgefertigte Politiker sei geboren.
Doch dann schießt sich der Autor auf Richard Nixon ein. Nixon verkörpere wie niemand sonst den neuen Typus eines Politikers, der an nichts als den Erfolg glaube, und jenen neuen Amerikaner, den der Soziologe David Riesman in seinem Buch Die einsame Masse , einer Studie über amerikanische soziale Charaktere, als »außengeleitet« bezeichnet hatte: Männer und Frauen, die sich ganz am Verhalten anderer orientieren und die Normen, Werte und Ziele der Gruppe übernehmen, der sie angehören wollen. Im Gegensatz zu ihnen lassen sich Menschen des älteren »innengeleiteten« Typus vor allem von verinnerlichten Werten, Prinzipien und Zielvorstellungen lenken.
Nixon habe ein feines Gespür für die jeweils vorherrschende Stimmung, schreibt Schlesinger. »Befinden wir uns in einer McCarthy-Ära, ergreift er taktisch Partei für McCarthy; scheint sich eine liberale Phase anzukündigen, bezieht er taktisch einen liberalen Standpunkt.« Man sei an dieses chamäleonhafte Verhalten Nixons so gewöhnt, dass keiner mehr nach der Echtheit seiner Überzeugungen frage. Als Mann ohne Werte besitze er auch kein Geschichtsbewusstsein; die große Tradition des Landes sei ihm offensichtlich gleichgültig, sonst hätte er ja nicht – wie in der McCarthy-Zeit – die Grundprinzipien der amerikanischen Demokratie verletzt. Er sei jedoch sehr geschickt in »falscher Personalisierung«, also in der Methode, Ämtern und unpersönlichen Beziehungen einen sehr persönlichen Anstrich zu geben, indem er bei jeder Gelegenheit seine Familie mit ins Rampenlicht ziehe. Für ihn zähle allein das Image.
Da sei John F. Kennedy doch von einem anderen Schlag. Schlesinger lobt seinen Favoriten nur in den höchsten Tönen. Kennedy besitze all die Eigenschaften, die Nixon so offensichtlich fehlten: Geschichtsbewusstsein, Interesse an wissenschaftlichen Fragen und vor allem an wirklichen Problemen und realistischen Lösungsansätzen. »Das Produkt, das Kennedy verkaufen will, ist sein Programm; das Produkt, das Nixon zu verkaufen versucht, ist er selbst.«
Auch nach einem halben Jahrhundert beeindruckt Schlesingers schmales Buch noch durch seinen Scharfsinn; wenn er den Charakter des »neuen Politikers« beschreibt, hat es etwas geradezu Prophetisches. Andererseits ist es fast immer, wenn es um Kennedy selbst geht, aus heutiger Sicht auch unfreiwillig komisch. Zwar hat sich John F. Kennedy später, wie sein Bruder Robert, in einigen entscheidenden Augenblicken tatsächlich als großer Staatsmann erwiesen – man denke nur an die Kubakrise. Aber wenn es einen Präsidenten gab, der aus dem Weißen Haus eine Imagefabrik gemacht hat, wenn man einem Politiker vorhalten darf, er habe Frau und Kinder dafür benutzt, sein Image auf Hochglanz zu polieren – damit eine weniger schöne Wirklichkeit unsichtbar blieb –, dann war das wohl John F. Kennedy. Gore Vidal hat einmal über die Kennedys gesagt, sie würden Illusionen schaffen und sie Tatsachen nennen.
Geführt von Adlai Stevenson, hätten die Demokraten eine tiefgreifende Wandlung durchgemacht, schreibt Schlesinger abschließend, und
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