Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
1960 waren die Amerikaner also ungeachtet jeder neuen Dynamik auffallend sesshaft – jedenfalls für amerikanische Verhältnisse.
Der Durchschnittsamerikaner konnte sich nicht für ein Nomadenleben als Marsmensch in einem mobile home aus Aluminium und Kunststoff erwärmen.
Steinbeck übersah dabei vollkommen eine andere Revolution im Wohnen. Für ihn war »die Stadt« noch die Stadt des 19. Jahrhunderts: voller Menschen, geschäftig, dreckig und kriminell. Auf seiner Fahrt machte er, wenn möglich, einen Bogen um Städte, um das »echte« Amerika kennen zu lernen. Dadurch entging ihm, dass seine Landsleute sich in großer Zahl für einen ganz neuen Ort zum Wohnen entschieden hatten: die Suburbs, die Nachfolger von Levittown; keine Städte und keine Dörfer, sondern große bebaute Flächen in der Landschaft, von Projektentwicklern rasch hingemalt, dicht belaubt und immer grün, wie ein Deerfield des späten 20. Jahrhunderts. Die Wohnform von Levitt und seinen Gefolgsleuten war in den fünfziger Jahren unglaublich populär geworden. Über 80 Prozent der neugebauten Häuser wurden auf solch einem unbebauten Gelände errichtet. Die Pläne für ein Schnellstraßennetz, die damals entwickelt und realisiert wurden, hatten die deutschen Autobahnen zum Vorbild, unterschieden sich von diesen aber in einem Punkt: Sie waren nicht nur dazu gedacht, Städte miteinander zu verbinden, sondern sollten diese auch zu modernen Verkehrsmaschinen machen und neue Stadtgebiete schaffen.
Bereits 1970 lebten mehr Menschen in den Suburbs als in den ursprünglichen Städten. Am Ende des Jahrhunderts wurden 90 Prozent der Bürogebäude in Vorstädten hochgezogen, oft in anonymen Parks entlang der Interstate-Schnellstraßen. Die Bevölkerung einer Stadt wie Atlanta wuchs in diesen Jahren nur um etwa zwanzigtausend, aber die sie umgebenden Suburbs um gut zwei Millionen Seelen. Und die Vorstädte entwickelten mit der Zeit immer stärker ein Eigenleben; sie lösten sich gleichsam von den städtischen Zentren, man fand sie über das ganze Land verteilt, wie weiß-grüne Spritzer in der staubigen Wildnis. Sie spiegelten den Zeitgeist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider. Sie waren die Viertel, in denen die Hippies aufwuchsen und wo sich, eine Generation später, die young urban professionals entspannten, aber sie waren auch das Korsett, gegen das immer mehr Frauen rebellierten.
Philip Slater schrieb in seiner Analyse der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert von der »falschen Illusion der Autonomie«. Individualismus, so meinte er, wurzele in der Leugnung der Abhängigkeit der Menschen voneinander, von dem Boden, den sie bewirtschaften, und von der ganzen Welt. Es falle auf, so meinte er, dass viele technische Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten – ob beabsichtigt oder nicht – dazu geführt hätten, dass man sich von der Notwendigkeit der normalen zwischenmenschlichen Interaktion »befreit« habe. Die Suburbs seien das Paradebeispiel dafür.
Gleichzeitig entstand eine Gegenbewegung. Viele Suburbs entwickelten sich zu einer eigenen kleinen Welt von Gleichgesinnten, und dadurch nahm die Segregation in Amerika stark zu. Es entstanden Viertel, wo in den Kneipen tagein, tagaus die krächzende Stimme Bob Dylans das Zischen der Cappuccinomaschine übertönt und wo in jeder Einfahrt ein Volvo oder Toyota steht, und es gibt Viertel, in denen McDonald’s das Zentrum des sozialen Lebens bildet und wo Countrymusik über die Swimmingpools schallt, und es gibt alle Variationen von beidem. Man trifft auf diese Weise nur noch Gleichgesinnte, und das gilt von links bis rechts.
Zugleich blieben der ländliche Raum und die alte Stadt zurück. Ab 1950 ließen – und dieser Prozess dauerte bis weit in die Sechziger – jedes Jahr eine Million Farmer ihre Betriebe im Stich. In derselben Zeit begannen sich auch die Zentren der großen und kleinen Städte zu leeren. Während der fünfziger Jahre zogen mehr als eine Million New Yorker aus der Stadt in die umliegenden Suburbs. John Brooks vom New Yorker schrieb, die Suburbs »ließen die nächtliche Bevölkerung der Stadt wegströmen, und es blieben nur die Nachtwächter und Stadtstreicher. Die Stadt wurde zur Teilzeitstadt, überspült von einer Flutwelle, wenn die Autos und Pendlerzüge hineinfuhren, und am Abend verlassen, wenn die Woge sich wieder zurückzog – die Reste für Diebe, Ratten und Polizisten zurücklassend.«
Heute ist das Mobilheim immer noch ein Symbol der Freiheit. Doch
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