Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
dass die Stahlplatten krachten« –, gibt es immer noch. Steinbeck hatte dort übernachtet, auf dem Gelände eines verlassenen Motels. In seiner Reise mit Charley hat er daraus eine hübsche Geschichte gemacht: Alles war offen, die Lampen eingeschaltet, die pies and cakes für das Frühstück standen bereit, aber es war weit und breit kein Mensch zu sehen. Nicht als er ankam, und auch nicht, als er am nächsten Morgen um zehn wieder losfuhr. Man hätte meinen können, es habe sich um ein Geistermotel gehandelt.
Heute war von einem Motel keine Spur. Ich stieg aus, um zu tanken. In dem kleinen Laden, der zur Tankstelle gehörte, erkundigte ich mich: »Hat hier früher einmal ein Motel gestanden?« »Ah«, sagte der junge Mann mit Baseballkappe an der Kasse, »John Steinbeck, nicht. Gestern war auch schon jemand da, der danach gefragt hat, irgendein Journalist aus Pittsburgh.« Er verwies mich an einen Lokalhistoriker, der ganz in der Nähe wohnte, der könnte mir mehr darüber erzählen. Der Mann war nicht zu Hause, und wir fuhren weiter. An diesem Tag mussten wir noch mindestens zweihundert Meilen machen.
Überraschend war diese Entdeckung nicht. Die Idee, diese Reise nach genau fünfzig Jahren zu wiederholen, war mir wie eine gebratene Taube in den Mund geflogen, wie eine Geschichte, die es schon gibt und die nur noch einen Autor sucht. Der Plan war, um ehrlich zu sein, zu naheliegend, als dass nicht auch jemand anders auf den Gedanken hätte kommen können. Während der Vorbereitungen war mir sehr bald klar geworden, dass Steinbecks Reise für die Handvoll fanatischer Steinbeck-Liebhaber ungefähr dieselbe Bedeutung hat wie eine Pilgerfahrt nach Santiago de Compostella. Ein paar Autoren waren die Strecke bereits früher nachgefahren, und jeder hatte dies mit einem anderen Blickwinkel getan, genau wie auch ich es vorhatte.
Bill Steigerwald heißt der Mann, der mit schweren Schritten in meine sorgfältig aufgebaute kleine Steinbeck-Welt hineinmarschiert. Er ist ein ehemaliger Redakteur der Los Angeles Times und der Pittsburgh Tribune-Review . Er hatte gesalzene Kolumnen gegen die »Klimahysterie«, die »Versklavung« infolge des New Deal und die Hobbys der Liberalen im Allgemeinen verfasst, und jetzt, da er in Rente ist, hat er einen Blog auf der Website der Pittburgh Post-Gazette . Er wollte Steinbecks Reise wiederholen mit der gleichen Fragestellung wie ich: Was hat sich im Laufe des letzten halben Jahrhunderts in diesem Land verändert? Doch Steigerwald stellte mit der Zeit immer mehr John Steinbeck in den Mittelpunkt seines Interesses. Er versuchte, die Reise so genau wie möglich zu rekonstruieren. Anhand von Steinbecks Briefen, von Zeitungsartikeln, Biographien, Interviews und natürlich der Reise mit Charley selbst hatte er sich eine Liste mit allen Orten gemacht, in denen unser Held 1960 übernachtet hat. Die arbeitete er ab, ganz allein, mit einem kleinen gemieteten Toyota, in dem er meistens auch schlief. Er fand, dass Steinbeck durchaus ein prima Kerl war, wie er später sagte: »Als Freidenker konnte ich den alten Burschen sehr gut leiden, er liebte Gewehre, er liebte das Recht auf Eigentum.«
Seine Reisepläne entsprachen genau den meinen: Er war auch am Morgen des 23. September von Steinbecks Haus in Sag Harbor aus losgefahren, kurz vor uns. Wenn ich eine Stunde früher die Fähre aufs Festland genommen hätte, wären wir uns, die Notizbücher in der Hand, bestimmt auf dem Oberdeck begegnet. Steigerwald hatte auf der Fähre John Woestendiek getroffen, einen ehemaligen Journalisten von The Baltimore Sun , der zusammen mit seinem Hund Ace am Beginn eines vergleichbaren Steinbeck-Projekts für die Website OhMiDog.com stand. Später sollte ich erfahren, dass außerdem noch eine Dame von der Washington Post auf Steinbecks Spuren unterwegs war – nein, einsam waren wir auf unserer Reise in diesem Herbst ganz bestimmt nicht.
Es gab jedoch einen Unterschied zwischen Steigerwald und den anderen, inklusive Steinbeck und mir: seine große Genügsamkeit. Steigerwald war der Einzige, der wirklich allein reiste. Er übernachtete selten oder nie im Motel, sondern campierte fast immer auf einem der riesigen Parkplätze eines Walmart oder eines anderen Einkaufszentrums. Letzteres galt übrigens auch für John Woestendiek. In seinen Blogs entpuppte Steigerwald sich außerdem, unabhängig von seinen Ansichten, als fachkundiger drive-by -Journalist. So fand er in Deerfield durch Herumfragen die – mittlerweile
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