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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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später.
    »Nun, Sir, sie ist betrunken, und ich bin ein Schwarzer. Wenn ich sie anrühre, kann sie vielleicht schreien, ich wollte sie vergewaltigen, und dann gibt’s einen Auflauf, und wer glaubt dann wohl mir ?«
    »Da müssen Sie aber schnell gedacht haben, um so schnell auszuweichen.«
    »Ach nein, Sir! Ich habe schon lange Übung darin, ein Schwarzer zu sein.«
    Im Süden sah die Realität bis weit in die sechziger Jahre bedeutend grimmiger aus. Überall gab es weiße und schwarze Wartezimmer, weiße und schwarze Krankenwagen, weiße und schwarze Damen- und Herrentoiletten, weiße und schwarze Kneipen, Bars und Restaurants. Schwimmbäder und Vergnügungsparks hatten getrennte Öffnungszeiten für Weiße und Schwarze, in den Zügen gab es spezielle Waggons für Schwarze – meistens gleich hinter der Lokomotive, unkomfortabel, schmutzig und unsicher –, Busse und Straßenbahnen verfügten über getrennte Sitzplätze. Schon eine kleine Interaktion mit einem Weißen konnte einen Schwarzen in große Schwierigkeiten bringen: widersprechen, auf der Autobahn überholen, keine Vorfahrt gewähren, sogar unaufgefordert die Hand geben.
    Schwarze Männer mussten erst recht auf der Hut sein. Schon ein Blick konnte eine hysterische weiße Dame in ihrer Ehre verletzen, und weitererzählt konnte solch eine Lappalie leicht zu einer Vergewaltigung werden. Laut dem jährlichen Lynch Report des Tuskegee Institute wurden zwischen 1882 und 1959 insgesamt 3446 Schwarze gelyncht, darunter 154 Frauen. Drei Viertel dieser Fälle ereigneten sich im Süden, nicht selten infolge von Nichtigkeiten oder Vergehen, mit denen die Opfer nichts zu tun hatten. Die Menge stand daneben und lachte, Fotos der Erhängten wurden als Ansichtskarten verkauft. Und wenn es irgendwo im Süden zu einer solchen Welle der Gewalt kam, war das sogar im Norden spürbar: Schwarze Schuldirektoren in Philadelphia etwa sahen es an der plötzlichen Ankunft neuer Migranten aus bestimmten Gebieten des Südens.
    Isabel Wilkerson zeichnete die Geschichte von Eddie Earvin auf, einem jungen schwarzen Landarbeiter in Mississippi. Bei der Spinaternte schnitt er sich in den Finger. Er musste zum Arzt, der sechs Meilen Fußweg entfernt wohnte. Auf dem Rückweg wurde er von seinem Boss angehalten: »Weißt du nicht, dass du nirgendwohin gehst, wenn ich es dir nicht sage?«, schnauzte der Mann ihn an und holte dabei seine Winchester aus dem Pick-up. »Vielleicht sollte ich dich am besten gleich erschießen.« Er richtete das Gewehr auf Eddies Kopf und wiederholte: »Du gehst nirgendwohin, außer wenn ich es dir sage.« Auch das gab es noch 1960.
    In der amerikanischen Literatur wurde oft suggeriert, die Schwarzen aus dem Süden seien aus wirtschaftlichen Gründen in den Norden gezogen, in erster Linie deshalb, weil es nach der Einführung der Baumwollpflückmaschine für sie keine Arbeit mehr gegeben habe. Nichts in den Forschungen von Wilkerson – sie interviewte Hunderte von Migranten – deutet darauf hin. Die meisten Emigranten arbeiteten überhaupt nicht auf den Baumwollplantagen, und außerdem hatten bereits Millionen Farbige den Süden verlassen, ehe die ersten Maschinen auf den Feldern zum Einsatz kamen. Es war vielmehr so, dass die Einführung dieser Maschinen durch den so entstandenen großen Mangel an Arbeitskräften beschleunigt wurde. Darüber hinaus versuchte man mit allen Mitteln, der massenhaften Abwanderung der Schwarzen entgegenzuwirken: Waggons wurden abgehängt, Fahrkarten zerrissen, abreisende Farbige verhaftet. Aber der Exodus der schwarzen Familien verebbte nicht – und ihre Motive dafür hatten sehr viel mit fehlender Menschenwürde und, ja, mit dem amerikanischen Versprechen der Gleichheit zu tun.
    So verursachte Jim Crow eine Migrationsbewegung von historischem Ausmaß und epochaler Bedeutung. Wilkerson: »Die Große Migration verlieh dem städtischen Amerika ein anderes Gesicht und zog tiefgreifende soziale und politische Veränderungen in jeder Stadt nach sich, die davon betroffen war. Der Süden wurde dadurch zur Gewissensbefragung und letztendlich auch zur Abschaffung des feudalen Kastensystems gezwungen. Diese Völkerwanderung hatte ihre Ursache in den nicht erfüllten Versprechen, die nach dem Bürgerkrieg gegeben worden waren, und der große Einfluss, der von ihr ausging, hat mit den Anstoß zur Bürgerrechtsrevolution gegeben, die das Land in den sechziger Jahren erlebte.«
    Und dabei blieb es nicht: Die Great Migration veränderte das alte

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