Amerikanische Reise
etwas geschehen wird, eine Begegnung und mehr vielleicht. Ihm gefällt es, nicht zu wissen, wo
er in ein paar Stunden sein wird, welche Gerüche er riechen, welcher Stimme er zuhören wird. Ihm gefällt die leichte Nervosität
und die langsam wachsende innere Spannung vor solchen Nächten; heute beunruhigt sie ihn.
Kristin trägt keine Jeans mehr, sondern einen kurzen dunklen Rock und eine helle Bluse, darüber eine hüftlange Jacke mit wattierten
Schultern. Mit dem Rock und dem Jackett umgibt sie die Aura einer Vorstandsetage, und Jan kann sich überraschend problemlos
vorstellen, wie sie einem Kreis von Direktoren ohne nennenswerte emotionale Beteiligung die Richtlinien für das nächste Geschäftsjahr
diktiert.
Sie betreten ein japanisches Restaurant im Souterrain eines heruntergekommenen Hauses. Sie werden mit fernöstlichem Lächeln
begrüßt, einem dichten Vorhang aus pfirsichhäutiger Freundlichkeit. Links ist die Sushi-Bar |52| mit vier oder fünf geschäftigen, weiß gekleideten Köchen, die mit großem Ernst alles mögliche hacken und würfeln. Rechts stehen
Tische aus hellem Holz, auch die Wände sind hell gestrichen, alles sehr geschmackvoll und schlicht. Die mit schwarzem Tang
wie mit Isolierband umwickelten Sushi-Reisröllchen sind auf den Tellern akkurat angerichtet wie Käsesticker oder Schillerlocken.
Walter sitzt bereits an einem der Tische. Sie setzen sich dazu. Er entschuldigt sich, daß es länger gedauert hat.
Jan nickt. »Mach dir keine Gedanken.«
»Wenn du Lust hast«, sagt Kristin zu Jan, »gehen wir anschließend noch in die Galerie. Wir haben eine Ausstellungseröffnung.«
Walter sieht sie an. »Heute?«
Jan nimmt die Speisekarte. »Gerne. Was gibt es denn zu sehen?«
»Schön, daß ich auch erfahre, was läuft«, sagt Walter.
Kristin blättert in der Karte. »Was haltet ihr von
Ohitashi spinach?«
Sie streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Fotos. Unser Nachbar ist Fotograf.«
Jan nickt.
Walter stiert auf die Karte. »Du hast gesagt, die Ausstellung wäre abgesagt.«
Kristin schüttelt den Kopf. »Sie findet statt. Ich habe es dir gesagt. Du hast es vergessen.«
Walter ist verstimmt. »Ich dachte, Ausstellungen interessieren Rick nicht. Ist so was nicht viel zu profan für seine Kunst?«
»Falsch«, sagt Kristin. Sie versucht, einen leichten Ton anzuschlagen. »Er hat auch schon mal für Busen-Blättchen mit fingierten
Sexstorys fotografiert.«
»Ach ja?« Walter klappt die Karte zu. »Ich schlage
Shabu Shabu
vor.«
|53| »Walter hält Rick für einen Versager«, sagt Kristin zu Jan. »Er würde als Fotograf längst für
Time Life
arbeiten.«
»Ich bin eben der Meinung, daß Rick die Sache nicht richtig anfängt«, sagt Walter. »Wieso bewirbt er sich dauernd für diese
Stipendien, wo sie einem für zerkratzte und unscharfe Bilder ein paar tausend Dollar anbieten. Wenn er dann wieder eine Absage
bekommt, ist er für den nächsten Monat gelähmt. Für eine Million kann man sich demütigen lassen, aber nicht für ein Taschengeld.«
Jan beobachtet Kristin, während sie die Karte studiert: blonde Haare, kluge Augen, abgekaute Fingernägel. Sie streicht wieder
eine Haarsträhne hinters Ohr, immer auf der rechten Seite und nie auf der linken merkwürdigerweise.
»Meinetwegen
Shabu Shabu« ,
sagt sie.
Walter gibt die Bestellung auf. »Was in Amerika falsch läuft«, sagt er hinterher, weil er sich keine Zigarette anzünden darf
und um endlich das Thema zu wechseln, »ist die Geschichte mit dem Rauchen. Da sind die Amerikaner irgendwie auf dem falschen
Dampfer. Man kann es auch übertreiben. Was heißt denn Passivrauchen! Dann müßte man auch das Autofahren verbieten, jeder Fußgänger
ist Passiv-Autofahrer, und wenn man es genau nimmt, ist jeder ein Passiv-Atmer. Wer weiß denn schon, was alles an Bazillen
vom Nebentisch herüberfliegt. Wenn man rauchfreie Restaurants per Gesetz verordnet, dann müßte man auch erkältungsfreie durchsetzen.
No smoking, no sneezing.
Aber da ist mit den Amerikanern nicht zu scherzen, da sind sie einfach zugeknöpft. Als wäre Rauchen so etwas wie AIDS.«
Keiner geht auf Walters Bemerkung ein. Der
Sake
wird in quadratischen, bierdeckelgroßen Holzkistchen auf Porzellanuntertellerchen gebracht. Walter wendet sich an Jan: »Und
wie läuft es bei dir?«
|54| Über Jan rollt eine Müdigkeitswelle hinweg, und er bemüht sich, ein Gähnen zu unterdrücken. »Könntest du mir einen Kaffee
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