Amerikanische Reise
bestellen?«
Walter nickt und gibt der Bedienung ein Zeichen. »Neulich war ich mit Neil hier«, sagt er zu Kristin. »Es kam zu einer Verwechslung,
und sie stellten ihm
Tofu
hin. Du hättest sein Gesicht sehen sollen.« Die Bedienung kommt zum Tisch, und Walter bestellt den Kaffee.
»Wenn man Neil mit Vegetarismus kommt, wird er zum Tier«, sagt Kristin erklärend zu Jan. »Ganz im Gegensatz übrigens zu Cindy,
seiner Frau, die immer versucht, ihn vom Fleisch wegzubringen. Wegen der Hormone. Sie glaubt alles, was sie liest, und seit
aus England die Berichte von den wahnsinnigen Kühen kommen, ist sie überzeugt, daß wir alle verrückt werden, wenn wir nicht
auf der Stelle aufhören, Fleisch zu essen.«
»Vielleicht hat sie recht, und wir werden alle verrückt«, sagt Walter. Er wird nie zum Vegetarier werden.
Das Essen wird gebracht. Manchmal ist Jan erstaunt, daß es beim Japaner überhaupt Fleisch gibt. Wo das Essen Philosophie ist,
erwartet man keinen Schlachthof. Mit Fisch ist es etwas anderes. Fische, denkt Jan, sterben stumm – nicht dieses angstvolle
Brüllen, Blöken, Quieken im Angesicht des Todes. Sie klagen einen nicht an, während man sie erledigt. Die Genforschung arbeitet
in eine falsche Richtung. Nicht größere, fettere, ertragreichere Tiere müßten sie herstellen, sondern mundlose, augenlose,
gesichtslose.
»Neil ist ein Grabscher«, sagt Kristin und pickt eine Zuckerschote aus einem der Schälchen.
Walter beginnt mit Garnelen. Er hätte es geschafft, mit Stäbchen einen Brief zu frankieren. »Quatsch«, sagt er zu Jan. »Einmal
ist er einer Sekretärin von der Armlehne ihres Bürostuhls auf den Schoß gerutscht. Er hat das Gleichgewicht |55| verloren. Hinterher war er besorgt, sie könne ihn wegen sexueller Belästigung verklagen.« Walter ist empört über die unsichtbaren
Gefahren, die Männern heutzutage drohen. »Er ist doch nur ausgerutscht«, verteidigt er seinen Freund. »Ich meine, wenn er
sie auf seinen Schoß gezogen hätte, wäre es etwas anderes gewesen. Aber er auf ihrem Schoß – was soll denn da passieren? Es
war schließlich kein Sekretär.«
Jan hat sich mit dem Thema sexuelle Belästigung nie beschäftigt. War es sexuelle Belästigung, als er heute morgen auf der
Flughafentoilette pinkelte und währenddessen eine Putzfrau mit Wassereimer und Aufnehmer hereinkam und zu wischen begann,
als sei keiner da? Und wer hat dabei wen sexuell belästigt?
»Wie ist es jetzt in Berlin?« fragt Kristin. »Es heißt, der Westen interessiert sich nicht besonders für den Osten.«
Jan erinnert sich daran, daß sie ihm vor ein paar Stunden noch erklären wollte, was
Donuts
sind; und in Berlin glaubt die Hälfte der Autofahrer, die Polen belehren zu müssen, was ein Stoppschild ist. Offenbar halten
es alle für selbstverständlich, daß die Spielregeln derzeit von Westen nach Osten fließen.
»Ich war einmal in Warschau«, erzählt er, »und mir ist eine Geschichte passiert, die mir hinterher wirklich unangenehm war.
Es lag an der Währung. Ich bin mit den hohen Zahlen und aufgereihten Nullen nicht klargekommen, und als eine Waffel mit Sahne
15.000 Zloty kosten sollte, kam ich nach kurzem Kopfrechnen auf neun Mark. Ich lächelte ein überhebliches Nicht-mit-mir-Lächeln und
ließ die zwei Verkäuferinnen in ihrem schrottreifen Wohnwagen mit Schiebefenster mitsamt ihrer Sahnewaffel stehen und bin
weitergegangen. Nach hundert Metern wurde mir klar, daß ich mich verrechnet hatte. Nicht neun Mark sollte |56| die Waffel kosten, sondern neunzig Pfennig. Ich bin zurückgegangen, habe mich kleinlaut entschuldigt und die Waffel gekauft.«
Jan pickt ein Stückchen rohen Lachs auf. »Ich meine«, sagt er, »vor fünfzig Jahren haben wir ihnen das Land verwüstet, und
jetzt beschuldigen wir sie des Betrugs. So muß es gewirkt haben. Sie haben mir die Waffel verkauft, aber die Sahne war sauer.
Weggeworfen habe ich sie erst, als ich um die nächste Ecke war.«
Kristin bedankt sich bei Jan mit einem liebevollen Blick für die Anekdote. Die immer gleichen amerikanischen Geschichten haben
längst begonnen, sie zu langweilen, und sie ärgert sich über Walter, der Jans Erfahrungen auf seine Weise interpretiert und
dem Osteuropa Thema seine Theorie überstülpt: Er ist der Überzeugung, die sozialistischen Vorstellungen von Arbeit sind nicht
von heute auf morgen aus den Köpfen zu bekommen. Zumal die westlichen Nachbarn, allen voran Deutschland, ja
Weitere Kostenlose Bücher