Amerikanische Reise
vereinzelten
Imbissen.
Eine Zigarette, dachte Jan damals, warum nicht? Und er dachte: Warum gewöhnt man sich das Rauchen überhaupt ab? Er sah die
noch geöffneten Läden rechts und links. Es wäre eine Sache von zwei Minuten, ging es ihm durch den Kopf: ein schneller, billiger
Kauf, und dann reißt man die Schachtel auf, zündet das Feuerzeug und inhaliert. Fünfzehn Jahre rauchen, dachte Jan, dann trifft
man eine vernünftige Entscheidung, und wenn man darüber nachdenkt, macht sie einem nur klar, daß man älter geworden ist. Was
heißt es, älter zu werden? überlegte er, außer mit dem Rauchen aufzuhören und daß einem die Musik im Radio von Jahr zu Jahr
fremder wird.
Sie bogen in eine der Straßen, die ihren Fluchtpunkt im Unendlichen zu haben scheinen. Die Stadt durchströmte Jan wie die
sich selbst beständig reproduzierende Neonmatrix des
2001 -
Universums. Der Ritt auf einer Stahlkugel durch den Einschußkanal eines Flipperautomaten, der vor Jans Augen allmählich verschwamm.
Kristin redete nicht, und Jan wußte, daß seine Energien jetzt verbraucht waren. Er konnte sich nicht länger gegen den Jetlag
wehren und schlief ein, während sie fuhr. Hin und wieder versuchte er, die Schärfe der Bilder auf der Netzhaut wieder herzustellen,
was ihm schließlich nicht mehr gelang, und allmählich wurde die Stadt zu einem dunklen Universum, in dem nur noch hier und
da ein paar Sterne auftauchten, die nicht mehr zu erreichen waren, sondern Lichtjahre entfernt vorüberzogen.
Als er dann in der Nähe von Chicago aufwachte und langsam verstand, daß er sich nicht mehr in New York befand, sondern auf
einem Highway Richtung Westen, wurde |92| ihm klar, daß sein Urlaub kein Urlaub mehr war. Irgendeine Geschichte hatte begonnen.
Kristin steuerte den Wagen nach Chicago hinein und wollte auf den Sears-Tower. Jan stand in der vollgestopften Fahrstuhlkabine
neben ihr. Ihr Oberkörper wurde gegen seinen gedrückt, nur dünne Baumwolle trennte ihre Brust von seiner. Sie schlenderten
über die Aussichtsplattform und überblickten durch ein Fernrohr die Stadt, die in bläulichem Dunst schwamm. Dann mußte Kristin
sich setzen, weil sie nach zwölf Stunden Autofahrt erschöpft war. Jan legte den Arm um sie, als sie zurück zum Fahrstuhl gingen,
und er wußte, daß er auf dem besten Weg war, sich in sie zu verlieben.
Tage später die
Badlands,
die Nacht in ihrem Bungalow, und Jan erinnert sich an den weißen Körper Kristins, die im Zimmer steht wie eins der unerreichbaren
Parfummodels – es war nicht mehr zu ändern. Unsinn zu hoffen,
Shoemaker-Levi
hätte den Jupiter verfehlen und auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen des Alls verschwinden können. Die Astronomen wußten seit
langem, daß er treffen würde, weil sie ihre Fernrohre nicht auf die dunstige Erdoberfläche, sondern ins klare, staubfreie
Universum richten, dorthin, wo die Materie nach den exakten Gesetzen der Himmelsmechanik ihre Bahnen zieht. Vom Sears-Tower
aus dagegen schwamm die Zukunft im Bodennebel der Stadt. Es war nicht zu sehen, wie es kommt.
Jans Blick hangelt sich von Verkehrsschild zu Verkehrsschild. Mal sind sie gelb mit schwarzem Rand, dann orange, quadratisch,
auf einer Spitze stehend.
Dead end.
Die meisten Informationen werden nicht symbolisiert, sondern in schriftlicher Form gegeben:
Road construction ahead,
wo in Deutschland ein Arbeiter schaufelt. Gelegentlich |93| Schilder mit Entfernungsangaben, die Jan immer wieder unterschätzt, weil er in Kilometern denkt. Ein paar Kreuzungen läuft
es meist, dann wieder ein Halt vor Rot. Der Querverkehr stört die geradlinig fließende, gleichförmige Bewegungswahrnehmung,
an die sich Jan auf der Landstraße gewöhnt hat, als sei es die einzig mögliche – eine Woche auf einem ruhigen, kaum befahrenen
Fluß. Jan versucht, die Schilder nicht nur vorbeifließen zu lassen, sondern bewußt wahrzunehmen, um nicht aus der Konzentration
zu gleiten in die Erschöpfung nach fast zweitausend Kilometern nonstop. Gelegentlich ziehen Wegweiser vorüber:
58W
und ein Pfeil, aber was nützt einem ein Koordinatensystem, denkt Jan, wenn man den Ursprung nicht kennt.
Er fragt sich, ob es eine Schuld gibt, und wenn, wer hatte sich schuldig gemacht? Kristin, die einfach losgefahren war, mitten
in der Nacht, nachdem sie sich mit Walter gestritten hatte. Oder Walter, der sie, als sie die Wohnung verließ, nicht aufhalten
wollte oder konnte. Oder Jan, der sich, nachdem er
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