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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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machen, wenn man Monopoly
     spiele. Den meisten, sagte sie, gehe schon auf der Badstraße die Puste aus.
    Kristin war überzeugt, daß Walter einfach die Geduld verloren und sich in den Datennetzen Kapital für seine Spekulationen
     verschafft hatte. Vom mathematischen Standpunkt aus, erklärte sie, gehe es darum, im Hin und Her der Kurse Sprünge nach oben
     aufzufinden. Es sei eine mathematische Eigenschaft komplexer Systeme, sagte sie, Sprünge auszuführen. Der Börsencrash beispielsweise
     sei ein Sprung des Gesamtsystems nach unten. Im Rahmen der mathematischen Theorien seien solche Vorgänge eine Banalität.
    Während sie redete, hatte Jan den Eindruck, daß sie sich Walter überlegen fühlte. Die Verachtung des Theoretikers |99| für den Praktiker: Sie hatte mit Erfolg studiert, was ihr Mann ohne Erfolg betrieb. In ihren Augen war die Börse ein algebraisches
     Problem, und je länger Walter ergebnislos an seinen Ideen herumbastelte, desto mehr wurde er in ihren Augen zum Versager.
     Sie hatte sich nicht in ihn verliebt, weil er vielleicht einmal Karriere machen würde, und sie liebte ihn auch jetzt nicht
     wegen irgendeines möglichen Aufstiegs, aber je mehr Walter selbst den Erfolg auf seine Fahnen schrieb, um so mehr riskierte
     er, daß sie ihn schließlich an seinem eigenen Wertesystem maß. Und im Rahmen dieses Systems hatte er soeben eine schwere Niederlage
     erlitten, mehr noch, vielleicht schon eine Vernichtung.
    Offenbar, vermutete Kristin, hatte er den falschen Sprung erwischt, einen abwärts führenden, einen mit einem Faktor kleiner
     Eins. Am Telefon war er übermüdet und auch betrunken, so daß es schwierig gewesen sei, Details zu erfahren. Er habe Neil vorgeworfen,
     an der ganzen Sache schuld zu sein. Während sie das sagte, kam es Jan vor, als sei sie sich nicht mehr so sicher, daß Neil
     tatsächlich hinter der Geschichte steckte, obwohl sie es anfangs selbst behauptet hatte.
    In ihren Gedanken hatte sich eine gefährliche Assoziation eingestellt: Sie hielt Walter für einen Verlierer wie seinerzeit
     ihren Geiger. Jan hatte den Eindruck, als wolle sie Walter als unbegabten Börsenmakler entlarven, um ihm heimzuzahlen, daß
     er ihr ihre Galerie nicht gönnte, ihre Freiheit. Jan fand sie ungerecht: Was verstand sie letztlich von der Börse, außer ein
     paar mathematischen Gemeinplätzen? Komplexe Systeme neigen zu Sprüngen – genauso könnte man es als Erkenntnis verkaufen, daß
     es im Verkehr zu Unfällen kommt.
     
    |100| Jan stoppt und schiebt den Hebel der Automatik vor. Das stupide Gasgeben-fahren-bremsen, Gasgeben-fahren-bremsen zermürbt
     ihn. Er fragt sich, wofür Autos in amerikanischen Städten überhaupt einen Fahrer brauchen. Als bemühe man sich, in einem Jahrmarktskarussell
     das Steuerrad korrekt zu bedienen.
    Es hat ihn am Anfang überrascht, wie stark sich der amerikanische Straßenverkehr vom europäischen unterscheidet. Insgesamt,
     hat er registriert, wird ruhiger gefahren, weniger aggressiv auch, das Auto wird selten zur Machtdemonstration benutzt. Dann
     der spärliche Verkehr auf den Highways – jede Aggression würde schon deswegen ins Leere laufen, weil kaum einer da ist, an
     dem man sie auslassen könnte. Aber auch in den Städten: Ein Spurwechsel wird nicht als Eindringen in ein fremdes Revier interpretiert,
     sondern als legitime Entscheidung eines jeden Fahrers.
    Aber nicht nur der Verkehr, auch scheinbare Trivialitäten wie das Tanken hatten ihre Besonderheiten. Bereits die fremden Namen
     der Kraftstoffe irritierten Jan:
Amoco, Gulf.
Wie selbstverständlich hatte er angenommen, es müsse auf der ganzen Welt die gleichen Benzinmarken geben. Nicht einmal der
     Tankvorgang war vollkommen identisch. Der Abzug der Zapfpistole ließ sich widerstandslos wie ein ausgerenkter Arm hin- und
     herbewegen, ohne daß Benzin durch den Schlauch geströmt wäre. Jan nahm an, die Säule sei noch nicht freigegeben, aber der
     Mann an der Kasse machte irgendeine Handbewegung, die Jan nicht deuten konnte. Er hätte Kristin fragen können, die auf dem
     Beifahrersitz las, aber er wollte nicht zugeben, daß er Schwierigkeiten hatte, einen Wagen vollzutanken. Also bewegte er immer
     wieder den lose schwingenden Abzug, als müsse der irgendwann die Lust an dem Spuk verlieren |101| und einrasten. Am Ende blieb ihm nichts übrig als zu fragen. Kristin lehnte sich aus dem Seitenfenster und wies auf die Pistolenhalterung
     an der Zapfsäule – ein Haken, der nach oben geklappt

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