Amerikanische Reise
Pressemitteilung Jan seinerzeit nicht sonderlich interessierte, und er wundert sich jetzt, daß sie ihm überhaupt im
Gedächtnis geblieben ist. Er stellt sich vor, was wäre, wenn er damals mit der gleichen Genauigkeit, mit der die Astronomen
den Kollisionszeitpunkt mehr als ein Jahr vorausberechnen konnten, hätte wissen können, was er zur selben Zeit tun würde.
Er hat es nicht einmal vor einer Woche gewußt. Und wenn er es gewußt hätte – das war die entscheidende Frage –, hätte er dann den Kurs geändert, beziehungsweise wäre es überhaupt möglich gewesen, den Kurs zu ändern?
Jan glaubt nicht an Vorbestimmung. Das Leben ist kein Film, bei dem das Ende schon feststeht, wenn noch der |89| Vorspann läuft. Die Menschen sind keine Geschöpfe von Drehbuchautoren, die ihre Helden Fehler um Fehler begehen lassen, bevor
sie sie mit einem glücklichen Ende belohnen oder auch nicht. Es gibt niemanden, der weiß, wie es weitergeht. Was geschieht,
entscheidet sich im Moment. Jan ist überzeugt, daß er, und niemand sonst, über sein Leben bestimmt. Und wenn er einen Fehler
macht, ist niemand außer ihm selbst dafür verantwortlich, jede andere Philosophie erscheint ihm mittelalterlich. Was ihn beunruhigt,
ist nur, daß er nicht weiß, ob er einen Fehler begangen hat. Die vergangene Woche kommt ihm wie eine Täuschung vor.
Jan erinnert sich an den Augenblick, als Kristin nach ihrem Streit mit Walter voller Wut das Wohnzimmer verlassen hatte. Walter
war nicht in der Lage gewesen, ihr nachzugehen, als sie die Tür hinter sich zuschlug. Er war von seinem Arbeitsstuhl nicht
hoch gekommen und hatte Jan gebeten, Kristin zu beruhigen. Jan war hinausgegangen und mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß gefahren,
wo Kristin auf dem Treppenabsatz saß. Er setzte sich neben sie.
Es sei nicht möglich, sagte sie erregt, mit Walter zu streiten, weil er jedes Maß verliere. Egal, ob es um die Faulheit eines
Sachbearbeiters gehe oder um Ricks Bilder – er habe sich nicht im Griff. Aber das, was er heute gesagt habe, sei mit einem
Wutausbruch nicht mehr zu erklären. »Er haßt die Galerie. Er haßt mich«, stellte sie damals fest.
Dann stand sie auf und verließ das Haus. Jan folgte ihr auf die Straße, und sie gingen Block für Block schweigend nebeneinander
her. Es war niemand unterwegs, und auch Autos fuhren kaum noch an ihnen vorbei. Die Vorstellung ging Jan durch den Kopf, sie
würden mit vorgehaltener Waffe angehalten, aber die Szene blieb abstrakt: Er fühlte |90| sich nicht bedroht. Er war wie ein Wild, das noch nie einen Menschen gesehen hat und grast, bis es abgeschossen wird. Wie
viele Morde gab es Tag für Tag in New York? Eine Handvoll, soviel Jan wußte. Er ging neben Kristin her, als spazierten sie
mitten durch ein Kriegsgebiet, ohne daß Schüsse fielen oder Granaten einschlugen. Was für die Welt als Ganzes gilt, dachte
Jan, gilt offenbar für New York im kleinen: erstaunlich viele Straßenzüge, in denen nicht geschossen wird. Er wußte um die
Naivität des Gedankens, und dennoch ging ihm immer wieder durch den Kopf, auch mit einem Straßenräuber müsse zu reden sein.
Trug denn heutzutage noch irgend jemand so viel mit sich herum, daß es einen Kampf wirklich lohnte? Für eine Kreditkarte und
etwas Bargeld? – Für Kristin war die Situation eine andere. Als Frau trug sie etwas mit sich, das nicht verhandelbar war.
Er ging damals neben ihr her, ohne zu wissen, welches Ziel sie hatte – ob überhaupt eins. Einmal nahm er den Geruch nach Wasser
wahr, nach Meer: eine Spur, die sich sofort wieder auflöste. Dann erreichten sie ein Parkhaus, dessen Einfahrt in weißem Neonlicht
lag, daneben ein Resopalhäuschen mit kleinem Fenster. Die Tür stand offen, Kristin grüßte den Parkwächter:
hi Julio.
Er trug eine beigefarbene Uniform und grüßte zurück,
where are you going?
Kristin wies auf Jan,
sightseeing,
sagte sie,
this is Jan. A friend from Germany,
und Julio sagte:
great, hi. Hi,
sagte Jan. Er folgte Kristin über den nackten, staubigen Boden an den aufgereihten Wagen vorbei. Sie erreichten den blauen
Buick, Kristin betätigte den Piepser am Schlüsselbund, die Türschlösser schnappten in der kahlen Stille des Betons.
Sie setzte zurück. Die Scheinwerferkegel glitten über Wände, Stoßstangen und Rückleuchten. Sie fuhr aus der |91| Einfahrt. Julio winkte, als sie das Parkhaus verließen. Kristin steuerte den Wagen in eine etwas hellere Straße mit
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