Amerikanische Reise
durch gemeinsames Einatmen von Rasierwasser eine Familie
konstituieren ließ.
Gelegentlich füllten sie ihre Kühlbox in irgendeinem Supermarkt auf. An der Salatbar stellte Kristin geübt ihr Mittagessen
zusammen. Jan füllte seine Kunststoffschale systemlos auf, und irgendwie war sie am Ende immer zu klein. Nach dem Kassieren
packte ein alter Mann alles in eine braune Papiertüte, was Jan unangenehm war, weil es seinem Empfinden nach umgekehrt hätte
sein müssen: Wenn hier einer einem zu helfen hatte, dann er dem Alten und nicht umgekehrt.
Ohne Kreditkarte wären sie verhungert.
Tagelang begleitete sie das Highway-Schild mit der Nummer 90, ein blaues Wappen mit roter Krone, das regelmäßig am Straßenrand
aufgestellt war und anzeigte, |180| daß sie sich immer noch auf der roten Linie befanden, die auf der Straßenkarte fast wie mit dem Lineal gezogen Richtung Westen
führte, abgelenkt nach Norden erst durch die Rocky Mountains, dann weiter, etwas gewundener bis nach Seattle und zum Pazifischen
Ozean, aber Jan hatte das Gefühl, daß sie so weit nicht kommen würden.
Hin und wieder hielten sie einfach an und setzten sich auf eine Bank oder ins Gras. Jan fiel auf, daß es einen bemerkenswerten
Unterschied gab zwischen ihrer Fahrt und einer Urlaubsreise: Sie machten keine Fotos. Sie saßen einfach da und unterhielten
sich oder unterhielten sich nicht. Für wen hätten die Bilder auch sein sollen?
Kristin wollte abschalten und an gar nichts denken. Wann er das letzte Mal versucht habe, fragte sie Jan, gar nichts zu denken,
den Gedanken-, Theorie- und Meinungsmüll in sich abzustellen? Jan hatte das noch nie versucht. Kristin erzählte ihm, daß sie
gelegentlich mit Freunden meditiere, was Jan irgendwie amerikanisch oder zumindest new-yorkerisch fand. Kristin entschied,
Jan eine Einführung zu geben. Er sollte sich aufrecht hinsetzen, sich entspannen und ohne Konzentration irgendeinen Punkt
ansehen. Jan versuchte, nichts zu denken, und starrte den Buick an, der zwanzig Meter entfernt geparkt war und der nach einer
Weile begann, sich langsam aus sich selbst heraus in Bewegung zu setzen, als treibe ihn Jan mit der Kraft seiner durch Kristins
Meditationsübung gebündelten Gedanken an. Er rollte auf eine Böschung zu, und Jan brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen,
daß Kristins Lehrgang in ihm nicht neue Fähigkeiten geweckt, sondern er vergessen hatte, die Handbremse anzuziehen. Er sprang
auf und erreichte den Wagen gerade noch rechtzeitig.
Es war Jan nicht lieb, als Kristin seinen
Panasonic -
Rekorder entdeckte. Wozu denn der gut sei? wollte sie wissen. Er |181| erklärte, daß er ihn in seiner Zeit als freier Journalist als handliches Notizbuch auf Reisen verwendet und sich seitdem angewöhnt
habe, ihn immer bei sich zu haben. Von der Funktion, die er darüber hinaus für ihn hatte, sagte er nichts. Kristin spulte
das Band ein Stück zurück und schaltete ein. Jan hörte zum ersten Mal seit langem wieder seine Stimme durch den kleinen Lautsprecher.
Es waren seine Beobachtungen während des Fluges nach New York, die das Gerät jetzt wiedergab. Jan war froh, daß er keine persönlichen
Bemerkungen gemacht hatte – alles klang, wie er es angekündigt hatte: Material für einen möglichen Artikel. Nach der letzten
Eintragung stellte Kristin das Gerät auf Aufnahme und sprach in das fingernagelgroße Mikrophon: »Maisfelder, Weizenfelder,
Weizenfelder, Maisfelder, Maisfelder, Weizenfelder.« Sie fand das komisch.
Einmal hielten sie an einem einsamen Parkplatz. In einem eiförmigen Wohnwagen, an dem eine amerikanische Flagge wehte, wurde
Kaffee verkauft. Ein warmer, gleichmäßiger Wind strich über das Areal. Jan setzte sich auf eine Bank und streckte die Beine
aus und blinzelte durch die Sonnenbrille ins Gegenlicht, in dem die Erde zu einer schwarzen Scheibe unter einem sandgelben
Himmel wurde. Kristin kam mit zwei Bechern Kaffee. Jan ließ seinen Kopf im Nacken baumeln, der vom langen Sitzen im Buick
verspannt war. Von beiden Schulterblättern her zog es, als seien die Sehnen zu kurz.
Kristin fing an, über ihr Geigenspiel zu reden, das, behauptete sie, stets mittelmäßig gewesen sei. Ihr Mitgeiger, den sie
dann verlassen habe, sei einmal mit einem Orchestermusiker ins Gespräch gekommen, und anstatt besser nicht über Musik zu reden,
habe er es sich nicht nehmen lassen, über Schostakowitschs Streichquartette zu philosophieren. Wenn er wenigstens
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