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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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einer Reihe von umlaufenden Trabanten, womit die Lehre von der Erde als Mittelpunkt des Universums
     unhaltbar geworden sei.
    Weniger bekannt ist, daß Galilei nicht recht hatte. Er hatte keineswegs ein Planetensystem wie das unsere entdeckt, sondern
     lediglich erstmals gesehen, daß auch andere Planeten wie die Erde einen Mond haben, beziehungsweise nicht nur einen, sondern
     in diesem Fall gleich vier. Aber es wäre ungerecht, ihm diesen Fehler anzukreiden, zumal er nicht vollkommen falsch lag. Die
     Bauart des Jupiter-Systems entspricht in der Tat genau der Bauart des Sonnensystems als Ganzem und ist gewissermaßen dessen
     Wiederholung auf kleinerem Maßstab, eine Art Puppe in der Puppe.
    So sehr sich Galilei allerdings mit der Kirche entzweite, auch für ihn blieb der Kosmos die Heimat der Ewigkeit und ein Sinnbild
     göttlicher Schöpfungsharmonie, und vermutlich wäre er verwirrt gewesen, wenn er beim Blick durch |185| sein Teleskop den Kometen
Shoemaker-Levi
auf den Jupiter hätte stürzen und dort explodieren sehen. Dieses Ereignis wäre für ihn mit der ewig in sich ruhenden Schönheit
     des Kosmos unvereinbar gewesen.
    Es stimmt aber, daß
Shoemaker-Levi
den gleichen physikalisch-mathematischen Gesetzen gefolgt ist wie die von Galilei entdeckten Jupitermonde oder die Erde, was
     bedeutet, daß die Mathematik in der Lage ist, mit ein und derselben Gleichung sowohl die Harmonie als auch das Chaos zu beschreiben.
     Es hat allerdings nach Galilei noch einige Jahrhunderte gedauert, bis sich die Mathematiker der Tragweite dieser Dualität
     vollkommen bewußt geworden sind. Was heute unter dem Namen Chaostheorie zu populären Ehren gekommen ist, hängt mit der überraschenden
     Einsicht zusammen, daß selbst simple Systeme, die sich durch eine kurze Gleichung beschreiben lassen, je nach Ausgangssituation
     mal Ordnung hervorbringen können und mal Durcheinander.
    Die mathematische Schwierigkeit allerdings ist zu definieren, was Durcheinander, was Chaos überhaupt sein soll. Eine Gleichung
     ist immer exakt, und wenn man bereits vorher weiß, daß sich ein Zustand ins Chaos hinein entwickeln wird, stellt sich die
     Frage, ob es überhaupt noch berechtigt ist, von Chaos zu sprechen. Chaos ist notwendigerweise verknüpft mit dem Begriff der
     Unwissenheit. In der griechischen Mythologie ist das Chaos der Zustand, der vor jedem Wissen liegt, und der griechische Weltentstehungsmythos
     ist im Grunde keiner, beschreibt im Gegensatz zum christlichen nicht die Genese des Universums und der Erde, sondern die Genese
     des Intellekts, der sich aus dem Chaos, dem Nicht-Wissen, langsam zum Wissen emporarbeitet.
    Je mehr man weiß, desto unklarer ist, was Chaos sein |186| soll. Und mathematische Gleichungen wissen über sich gewissermaßen alles, sie kennen sich in ihren sämtlichen Möglichkeiten
     und Zuständen. Sie beinhalten kein Chaos, und trotzdem beschreiben sie es. Der Widerspruch läßt sich nur lösen, indem man
     annimmt, daß ein vollständiges Wissen über den Zustand der Welt nicht zu erlangen ist. Nur wenn immer ein Rest bleibt, ein
     Ungefähr, aus dem heraus sich alles, den Gleichungen folgend, entwickelt und in das alles wieder zurücktaucht, kann Unordnung
     entstehen. Und da es im Leben zweifellos Chaotisches, Unerwartetes und Katastrophen gibt, kann man daraus nur den Schluß ziehen,
     daß jedes Leben aus dem Ungefähren hervorgeht und daß es keine Möglichkeit gibt, sich daraus zu befreien.
     
    Objects in this mirror may be closer than they appear.
Die auf den Außenspiegel gedruckte Warnung springt Jan regelmäßig ins Auge, wenn er aus dem Seitenfenster sieht. Der Schriftzug
     ruht wie ein Filmtitel auf der im Spiegel abfließenden Landschaft, eine Konstante in dem Nadelöhr, durch das sich jetzt seit
     Tagen der Kontinent fädelt. In der Eintönigkeit des Fahrens rückt alles auf Fluchtpunktdistanz, und wenn gelegentlich ein
     Wagen überholt, ist Jan überrascht, daß sie nicht allein sind.
    »Morgen«, sagt Kristin, »wird dieser Komet auf den Jupiter stürzen.«
    Jan hat das Fenster heruntergekurbelt und den Ellbogen aufgestützt.
    »Das wissen sie doch seit mehr als einem Jahr«, sagt er. »Es gab damals eine kurze Notiz unter Vermischtes. Mir leuchtet nicht
     ein, warum sie so einen Wirbel darum machen.«
    Kristin ist besser informiert, weil sie in den vergangenen |187| Tagen ein paar Artikel über den bevorstehenden Zusammenstoß gelesen hat. »Es ist nicht ganz klar, ob er auf die

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