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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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der Auffahrt zum Highway und haben zwei Richtungen zur Auswahl.
    »East
oder
west« ,
fragt Jan.
    »West« ,
sagt Kristin.
    Irgendwann wächst die Skyline von Chicago aus dem Boden, als stünde sie auf einer Hebebühne.
    Kristin will auf den
Sears tower.
Die Vorstellung, mit dem Fahrstuhl siebzig oder achtzig Stockwerke zu fahren, gefällt Jan nicht. Er hat einmal gehört, Wolkenkratzer
     seien keine starren Gebilde, sondern in der Lage zu schwanken wie Gummi, und dabei gehe es nicht nur um wenige Zentimeter,
     sondern um Meter, fünf bis sechs Meter könne ein Wolkenkratzer an seiner Spitze pendeln. Kristin nimmt ihm nicht ab, daß er
     sich darüber ernsthaft Sorgen macht.
    Sie betreten den Fahrstuhl und zwängen sich mit dreißig |175| oder vierzig Personen in die Kabine. Jan mag weder Fahrstühle noch Seilbahnen. Die Menschen schieben sich zusammen wie die
     Poren eines Schwamms. »Wieso heißt es eigentlich
Fahr stuhl?«
sagt Jan, während Kristin gegen ihn gedrückt wird und er ihre Brüste auf seiner Brust spürt. Dann setzt sich die Kabine mit
     einem Ruck in Bewegung. Nach einer knappen Minute öffnen sich die Türen wieder. Blaukristallenes Licht fällt durch Fenster,
     die schräg eingesetzt sind wie überhängende Klippen aus Glas, damit man besser hinabsehen kann. Vor ihnen erstreckt sich die
     türkisfarbene Fläche des
Lake Michigan,
in den die Schatten der Hochhäuser ragen wie Stege.
    Kristin wendet sich nach rechts. Sie schreiten die Fensterfront einmal rundum ab. In der Mitte hinter Lamellenrollos hat ein
     Radiosender seine Studios. Die umliegenden Wolkenkratzer wirken kleiner. Jan hat das Gefühl, in einer Kapsel über der Stadt
     zu schweben, die in glimmendem blauem Dunst schwimmt, als habe die U V-Strahlung endgültig und auf breiter Front ihren Weg auf die Erdoberfläche gefunden. Er lehnt sich an eins der Fernrohre, das unbenutzt
     auf den Horizont zielt. Kristin kramt eine Münze aus der Jeanstasche und wirft sie ein. In dem Gerät schnappt ein Mechanismus,
     und sie beginnt zu schwenken, Jan muß einen Schritt zurücktreten. Viel sei nicht zu erkennen, stellt sie fest. Sie löst ihre
     Augen von der Sichtblende und überläßt Jan das Okular. Er läßt das Bild langsam in der Horizontalen gleiten, Fensterfronten
     schieben sich vorbei, geometrische Strukturen aus Glas, gekachelter Dunst. Dann fällt die Klappe.
    Als er aufsieht, lehnt Kristin an dem Geländer und kann sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Sie setzt sich vorsichtig
     auf den Sockel des Fernrohres. Jan hockt sich neben sie. »Es geht schon wieder«, sagt sie.
    |176| »Wir suchen ein Hotel«, entscheidet Jan.
    Sie schüttelt den Kopf. »Noch nicht.«
    Jan versteht nicht, wieso sie weiterfahren will, aber ihr Ton läßt trotz ihrer Schwäche keinen Widerspruch zu. Die Entschlossenheit
     in ihrem Blick, die Jan schon morgens aufgefallen ist, hat noch zugenommen. Er sieht sie an. Ihre Augenbrauen erinnern ihn
     an die Schwingen eines Vogels, der im Wind gleitet.
    Nach ein paar Minuten steht sie langsam auf. Jan legt seinen Arm um ihre Schultern, und sie gehen zu den Fahrstuhltüren. Sie
     warten. Jan stellt sich vor, sie seien ein Paar.
    Irgendwann schläft Kristin auf dem Beifahrersitz ein. Ihr Kopf neigt sich auf die Schulter, ihre Handgelenke kreuzen sich
     in ihrem Schoß. Hinter ihrem Profil zieht die Landschaft vorbei und gelegentlich ein Wagen, den Jan überholt. Es fällt ihm
     schwer, sich an das Tempolimit zu halten, weil kein Hindernis zu sehen ist bis zum Horizont, über dem die Sonne in einer Nährlösung
     aus blassem Gold schwimmt, bis sie schließlich zerfließt wie ein leck gewordener Kerzenstumpf. Jan fährt.
     
    Ihre Reise durch den Kontinent war so ereignislos wie die Landschaft neben dem Highway. Felder, nichts als Felder. Hier und
     da ragten ein paar Getreidesilos aus der Ebene. Dann wieder nichts, einfach nichts, bis zum Horizont. Gelegentlich spielte
     das Radio. Einmal begleitete sie einen halben Tag lang ein kleiner Regionalsender, WCSX
classic rock station,
der Jans Musikgeschmack traf: alte Rockmusik von Elvis über Stones und Doors bis hin zu Pink Floyd, kein Hiphop oder Rave,
     oder wie diese Sachen hießen, zu denen
MTV
mit Bildern um sich schoß und die Jan nicht mehr auseinanderhalten konnte. Der Moderator war ein fröhlicher Mensch, dem es
     nicht um den Jahrgang, sondern |177| um die Qualität ging.
It needn’t be old to be a classic,
sagte er gutgelaunt und legte gelegentlich

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