Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
füttern? «
»Die Enten«, schluchzte sie.
»Du möchtest die Enten füttern?«
Mickey heulte erneut auf, und der Taubenmann zog die Brauen hoch. Er hatte Kinder noch nie verstanden. Er nahm sie bei der Hand, um einen Parkwächter oder die Mutter zu suchen.
Schon nahte ein Polizist. Er drängte sich durch die Menge und verschaffte sich einen Überblick. »Lassen Sie das Mädchen los«, forderte er den Taubenmann auf.
»Ich suche ihre Mutter«, erklärte der. Speichel klebte an seinem verfilzten Bart.
»Lassen Sie das Mädchen einfach los und treten Sie beiseite.«
Mittlerweile war Rachel gekommen. Sie nahm Mickey in den Arm, drückte sie an sich, und die beiden wollten gar nicht mehr voneinander lassen. Derweil saß der Taubenmann mit ausgebreiteten Armen auf einer Parkbank, während der Polizist seine Kleidung abtastete, seine Taschen durchsuchte und Vogelfutter auf dem Rasen verstreute.
Mickey bat nie wieder darum, die Enten füttern zu dürfen. Sie wollte nicht mehr in den Park gehen und verließ wenig später die Dolphin Mansions gar nicht mehr. Ein Jahr danach wurde sie ihrem ersten Therapeuten vorgestellt.
Das Kinderbuch, das Timothy in Mickeys Schlupfloch im Keller gefunden hatte, handelt von fünf Enten, die in die Welt hinausziehen und wieder heimkehren. Mickey wusste aus Erfahrung, dass nicht alle kleinen Küken zurückkommen.
32
Wettermann Pete wischt sich die Milch aus dem Schnurrbart und weist mit dem Pappbecher in der Hand auf den Fluss. »Die Kanalisation ist kein Ort für kleine Mädchen.«
Sein Transporter parkt auf dem Gelände einer Werft im Schatten der Putney Bridge, wo Ruderachter über den Fluss gleiten wie riesige Wasserkäfer. Moley schläft im Laderaum des Transporters, zusammengerollt wie ein Hund, ein Auge offen.
»Wo könnten sie das Mädchen versteckt haben? Und wo könnte sich ein Mann verstecken?«
Pete atmet langsam aus, seine Lippen zittern. »Es gibt hunderte von Plätzen – unbenutzte U-Bahnhöfe, Versorgungstunnel, Schutzbunker, Aquädukte, Abflüsse … Wie kommen Sie darauf, dass sich da unten einer versteckt?«
»Er hat Angst. Er wird von verschiedenen Leuten gesucht.«
Pete brummt. »Es braucht eine ganz spezielle Sorte Mensch, um dort unten zu leben.«
»Er ist ein ganz spezieller Typ.«
»Nein, Sie verstehen mich nicht. Nehmen Sie Moley. Würde er dort unten verschwinden, würden Sie ihn in hundert Jahren nicht finden. Er mag Dunkelheit, so wie manche Menschen Kälte vorziehen. Verstehen Sie, was ich meine?«
»So ist dieser Typ nicht.«
»Und wieso kennt er sich dann da unten aus?«
»Er erinnert sich. Jemand hat ihm gezeigt, wo man sich verstecken kann und wie man sich dort unten bewegt. Ein ehemaliger Kanalarbeiter, Ray Murphy.«
»Sacharin Ray! Der Boxer.«
»Sie kennen ihn?«
»Ja, ich kenne ihn. Als Boxer war Ray nie ganz echt. Hat wahrscheinlich mehr Schwalben hingelegt als Jürgen Klinsmann. Ich kann mich nicht erinnern, dass er in der Kanalisation gearbeitet hat.«
»Das ist lange her. Danach war er beim Hochwasserschutz.«
Langsam breitet sich ein Lächeln auf Petes Gesicht aus wie Marmelade auf einem Toast. »Die alte Zentrale vom Londoner Hochwasserschutz liegt unter der Erde – im Kingsway Tram Underpass, dem alten Straßenbahntunnel.«
»Aber in der City fahren seit fünfzig Jahren keine Straßenbahnen mehr.«
»Eben. Der Tunnel wurde aufgegeben. Also wenn Sie mich fragen, war es ein verdammt bescheuerter Ort für eine Flutkatastrophenzentrale. Dumm!«
Der Kingsway Underpass ist eines jener seltsamen, beinahe geheimen Wahrzeichen mancher Städte. Zehntausende von Menschen gehen täglich daran vorbei oder fahren darüber hinweg, ohne von seiner Existenz zu wissen. Man sieht nur einen Eisengitterzaun und eine Kopfsteinpflasterstraße, die in der Erde verschwindet. Sie verläuft unter dem Kingsway, einer der verkehrsreichsten Straßen im West End, folgt dem Aldwych und kommt direkt unter der Waterloo Bridge wieder zum Vorschein.
Wettermann Pete parkt seinen Transporter direkt auf der Kopfsteinpflasterrampe, ohne die roten Linien und Halteverbotsschilder zu beachten. Er gibt mir einen Schutzhelm und holt ein Baustellenschild aus dem Laderaum. »Wenn irgendwer fragt, arbeiten wir für die Stadt.«
Die Schienenreste führen zu einem großen Tor, das den Eingang zum Tunnel versperrt.
»Können wir da irgendwie reinkommen?«
»Das wäre illegal«, sagt Pete und holt den größten Bolzenschneider aus seinem Wagen, den ich je gesehen
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